Inspector Jury bricht das Eis
dick.»
Wenn er Agathas Geplapper ertragen konnte, dachte Melrose, warum nicht auch das dieser kleineren und, wie er zugeben mußte, weitaus attraktiveren Ausgabe. «Ich bin etwas durcheinander», gab er zu und zündete sich eine Zigarrean in der Hoffnung, das Nikotin würde verhindern, daß sein Gehirn sich im Strudel eines zu früh genossenen Old Peculiers auflöste. «Ich dachte, die Puppe sei ein Mädchen.»
«Ist sie auch», mischte Jury sich ein, der soeben mit einem Glas vom besten Bitter in der Hand hereinspazierte. Er setzte sich auf die harte Bank, so daß die Kleine noch näher an Melrose heranrücken mußte. «Sie heißt Alice.»
«Also schön, Alice, was ist los mit deiner Puppe?»
Die braunen Augen betrachteten ihn mitleidig: « Ich doch nicht! Sie!» Sie hielt ihm die Puppe unter die Nase und fügte auf ihre kryptische Art hinzu: «Oder er. Ich heiße Chrissie. »
Eine Serie von 147 Punkten war gewiß einfacher zu bewerkstelligen, als aus Chrissie schlau zu werden. Ihre Mutter hätte ihr den Unterschied zwischen den Geschlechtern erklären sollen, dachte Melrose und lehnte sich zurück, um das Wunderkind dabei zu beobachten, wie es eine Serie von fünfzig Punkten herunterriß und sich erst dann wieder an seinen Freund Robbie erinnerte. Tommy verkorkste absichtlich einen ziemlich einfachen Stoß und trat zurück, um Robbie ans Spiel zu lassen. Robbie verpatzte seinen Stoß ebenfalls. Sie unterbrachen ihr Spiel, und Tommy gab eine Runde Zigaretten aus Jurys Päckchen aus. Dann nahmen sie jenseits des Tisches auf einer Bank Platz und unterhielten sich, das heißt, Tommy führte ein etwas einseitiges Gespräch mit seinem Freund.
«Was hoffen Sie denn hier herauszufinden?» fragte Melrose Jury, während Chrissie ihre Puppe auszuziehen begann.
«Weiß ich selbst noch nicht. Ich habe keine Ahnung, ob er sich überhaupt noch an Danielle Lyte erinnert. Sie ist vor Jahren gestorben, wie mir eine Bekannte von Helen Minton sagte.»
Die Puppe war, wie Melrose bemerkte, in Stoffstreifen gehüllt, die von einem Bettuch zu stammen schienen. Chrissie machte sich daran, sie von neuem einzuwickeln.
«Ich kann immer noch keinen Zusammenhang mit den Morden sehen. Angenommen, er ist der Sohn …» Melrose warf Chrissie einen mißtrauischen Blick zu, da er grundsätzlich von der Annahme ausging, daß Kinder alles hörten und einen im richtigen Augenblick damit erpreßten. Vorsichtig fuhr er fort: «Sie wissen schon, der Sohn dieser beiden. Mußte sie deswegen gleich sterben?»
«Vielleicht war sie einfach nur böse», meinte Chrissie.
Er hatte doch gewußt, daß ihr kein Wort entging. «Wir fragen dich schon, wenn wir deine Meinung hören wollen», sagte Melrose und übersah geflissentlich die rote Zunge, die sie ihm plötzlich entgegenstreckte. Die strahlend braunen Augen auf Jury gerichtet, meinte sie: «Schätze, ich sollte ihn wieder zurücklegen.»
Jury nickte. «Ja, das solltest du tun. Maria und Joseph vermissen ihn bestimmt schon.»
Maria und Joseph? Melrose gab es auf, den Sinn dieser dunklen Andeutungen ergründen zu wollen. Chrissie griff sich ihre Puppe, zwängte sich an Jury vorbei und rannte hinaus.
«Wenn ich aus Durham zurück bin, muß ich noch nach Newcastle zum Bahnhof, um Wiggins abzuholen.»
«Sergeant Wiggins! In diesen nördlichen Breiten? Weiß er, auf was er sich da eingelassen hat?»
«Ich fürchte, ja.»
In diesem Augenblick kam Tommy zurück und reichte Melrose ein Queue, das er aus der Halterung an der Wand genommen hatte. «Warum versuchen Sie’s nicht mal mit Robbie? Vielleicht haben Sie ja Glück.»
«Vielen Dank», sagte Melrose eisig, nahm das Queue und trat an den Tisch.
«Er erinnert sich kaum noch an seine Mutter. Sie ist gestorben, als er noch ziemlich klein war; wie klein, weiß er aber nicht mehr. Er hat ein Foto von ihr», sagte Tommy zu Jury.
«Ja, ich kenne es.»
«Klingt alles ziemlich vage.» Tommy betrachtete traurig sein Queue. «Im Vergleich zu ihm bin ich ein richtiges Glückskind.» Ganz sicher schien er sich da allerdings nicht zu sein. «Das Problem ist nur, daß ich der letzte Marquis von Meares bin – falls ich nicht heirate und Kinder bekomme. Ich glaube, Tante Betsy hat schon eine der Töchter eines Herzogs ins Auge gefaßt – keine bestimmte, die sehen sowieso alle wie Kobolde aus. Aber ich sollte mich nicht beklagen. Niemand macht mir Vorschriften außer Tante Betsy und vierzehn Anwälten.» Er sagte das ohne jede Ironie. «Man kann also sagen,
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