Inspector Rebus 10 - Die Seelen der Toten
Funkgerät an Rebus' Mund, wandte sich wieder nach vorn und sah Köpfe und Körper, hinter denen sich jede Menge weitere Beamte verbergen konnten. Anstelle der bisherigen berechnenden Ruhe lag jetzt Angst in seinen Augen. Er hatte die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Rebus war schon fast bei ihm, als der Mann zwei Zuschauer beiseite stieß und über die niedrige Steinmauer kletterte. Auf der anderen Seite des Beckens erhob sich eine Felsnase, auf deren Gipfel, über zwei schwarze Plastikeimer gebeugt, die Tierpflegerin stand. Rebus sah, dass sich hinter der Pflegerin kaum Zuschauer befanden, da der Felsen den Blick auf die Seelöwen versperrte. Indem er so das Gedränge umging, konnte der Mann über die jenseitige Mauer steigen und wäre dann praktisch schon am Ausgang gewesen. Rebus stieß einen leisen Fluch aus, setzte einen Fuß auf die Mauer und schwang sich hinüber.
Die Zuschauer pfiffen, johlten zum Teil sogar Beifall, und Videokameras wurden in Anschlag gebracht, um die Faxen der zwei Männer aufs Magnetband zu bannen, die sich vorsichtig die steil abfallende Beckenwand entlang tasteten. Rebus sah aus dem Augenwinkel eine pfeilschnelle Bewegung im Wasser und hörte die Warnschreie der Tierpflegerin, als ein Seelöwe auf die Felsen zu ihren Füßen hinaufglitt. Das glatte schwarze Tier blieb nur lang genug da, um einen Fisch aufzufangen, der ihm genau ins Maul fallen gelassen wurde; dann wandte es sich um und rutschte wieder ins Becken. Es sah weder allzu groß noch allzu gefährlich aus, aber sein Auftauchen hatte Rebus' Jagdwild verschreckt. Der Mann drehte sich für einen Moment um, und die Kamera rutschte ihm den Arm hinunter. Er streifte sich den Tragriemen über den Kopf. Er schien den Rückzug antreten zu wollen, aber als er seinen Verfolger sah, änderte er erneut seine Pläne. Die Tierpflegerin hatte mittlerweile selbst ein Funkgerät gezückt und alarmierte den Sicherheitsdienst. Das Wasser neben Rebus schien zu wabern und zu wallen. Eine Welle schäumte ihm ins Gesicht, und etwas Riesiges und Tintenschwarzes schoss wie eine Sonnenfinsternis aus der Tiefe empor und klatschte auf dem Felsen auf. Unter dem Geschrei der Menge richtete sich der Seelöwenbulle, der gut und gern vier- bis fünfmal so groß wie sein Sprössling war, auf und sah sich, lautstark durch die Nase schnaubend, nach Futter um. Als das Tier das Maul aufriss und ein beängstigendes Heulen ausstieß, japste der Fotograf, verlor das Gleichgewicht und plumpste mitsamt seiner Ausrüstung ins Becken.
Zwei Körper - Mutter und Junges - schwammen unter Wasser auf ihn zu. Die Tierpflegerin blies wie verrückt in ihre Trillerpfeife, das Ebenbild eines Schiedsrichters bei einem Sonntagsspiel, der sich plötzlich mit einer Massenkeilerei konfrontiert sieht. Der Seelöwenbulle schaute Rebus ein letztes Mal an und sprang dann wieder in das Becken, um seiner Lebensgefährtin beizustehen, die gerade den Neuankömmling mit der Nase anstupste.
»Herrgott«, schrie Rebus, »schmeißen Sie ein paar Fische rein!« Die Tierpflegerin verstand die Botschaft und kickte einen Futtereimer ins Becken, worauf alle drei Seelöwen schnurstracks darauf zu schwammen. Rebus ergriff die Gelegenheit beim Schopf und watete ins Wasser, kniff die Augen zu und tauchte unter, packte den Mann und schleppte ihn zurück zu den Felsen. Ein paar Zuschauer eilten zu Hilfe, gefolgt von zwei Zivilbeamten. Rebus brannten die Augen. Die Luft war geschwängert vom Geruch nach rohem Fisch.
»Kommen Sie da raus«, sagte jemand und streckte ihm die Hand entgegen. Rebus ließ sich an Land ziehen. Er riss dem durchweichten Mann die Kamera vom Hals.
»Erwischt«, sagte er. Dann kniete er sich auf die Felsen, fing an zu zittern und übergab sich in das Becken.
2
Am nächsten Morgen war Rebus umgeben von Erinnerungen.
Nicht seinen eigenen, sondern von denen seines Chief Super:
gerahmten Fotos, die das enge Büro voll müllten. Rebus kam sich fast wie in einem Museum vor. Kinder, jede Menge Kinder. Die Kids des Chief Super, mit zunehmend älteren Gesichtern, und dann seine Enkel. Rebus vermutete, dass sein Chef die Bilder nicht selbst geschossen, sondern geschenkt bekommen und sich verpflichtet gefühlt hatte, sie hier aufzustellen.
Ihre Positionierung verriet alles: Die Fotos auf dem Schreibtisch waren nach vorn gewandt, so dass jeder im Büro sie sehen konnte, nur nicht der Mann, der tagein, tagaus an dem Schreibtisch saß.
Andere standen auf dem Fenstersims hinter dem
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