Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
haarklein von ihrer Arbeit berichten können. Sie lesen ihnen die neuesten Kapitel vor und diskutieren darüber bis ins kleinste Detail. Bei anderen dagegen geht der ganze kreative Prozess flöten, sobald der Text … das Tageslicht erblickt. Mir hat einmal eine Schriftstellerin erzählt, sie habe von einem Roman bereits zehn Kapitel geschrieben gehabt, als ihr Freund den Text fand und las. Er war begeistert und liebte jedes Wort und konnte ganze Passagen daraus zitieren, und trotzdem war für sie alles ruiniert. Sie musste den Roman vergessen und ganz von vorn beginnen.«
»Vermutlich hat sie den Freund auch vergessen«, bemerkte Hannah.
»Ich denke schon. Jedenfalls scheint auch Hexham diese Einstellung geteilt zu haben, die sich aus drei Quellen speist: Erstens Hemmungen, zweitens Angst, sich lächerlich zu machen, und drittens Furcht davor, dass der Leser mit großen Hoffnungen einsteigt und dann enttäuscht ist. Anscheinend führte Hexham eine glückliche Ehe. Trotzdem wissen wir nicht genau – seine Töchter wissen es definitiv nicht –, wie die Beziehung zwischen den beiden war, sobald sie allein gewesen sind. Vielleicht hätte Diana Hexham kein Verständnis für sein Projekt gezeigt. Finanziell ist es ihnen nie gut gegangen, und sie hat erst nach seinem Verschwinden wieder gearbeitet. Dass er gelegentlich Nachhilfe gegeben hat, wissen wir. Wenn sie die Sache mit dem Ersten Himmel gewusst hätte, hätte sie sich vielleicht gefragt, warum er seine Abende mit dem Schreiben eines Romans verplemperte, der vielleicht nie erscheinen würde, anstatt mehr Nachhilfe für Abiturienten zu erteilen. Die Antwort auf diese Fragen kennen wir nicht. Jedenfalls hat er die Sache geheim gehalten. Bis zur letzten Zeile, und sogar noch darüber hinaus, wusste außer ihm niemand davon.«
»Schade, dass er sich Owen Tredown als Empfänger des Manuskripts ausgesucht hat«, warf Burden ein. »Warum? Warum hat er sich für Tredown entschieden?«
»Das werden wir nie wissen. Tredown behauptet, Hexham hätte ihn im Radio gehört. Das kann wahr sein oder auch nicht. Möglicherweise haben ihm Tredowns Bücher einfach gefallen – immerhin hatte er zwei davon zu Hause –, oder er hat vielleicht einen Zeitungsartikel über Tredown gelesen, in dem stand, dass er im Gegensatz zu anderen Autoren die ihm zugesandten Manuskripte liest. Jedenfalls hat er es ihm geschickt. Es wäre klüger von ihm und sicherer für ihn gewesen, wenn er es ins Feuer geworfen hätte.«
»In die Recyclingtonne, Guv«, korrigierte Hannah tadelnd.
»Oder, wie Sie sagen, Hannah, in die Recyclingtonne.« Mit wenigen Worten hatte sie Jahrhunderte ausradiert, in denen das Verbrennen von Papier die einzige Möglichkeit gewesen war, um es zu vernichten. War sie sich bewusst, dass es ein Leben vor den modernen Maßnahmen zur Rettung des Planeten gegeben hat? Beinahe hätte er gelacht. »Tredown hat es gelesen und war begeistert. Er sei neidisch gewesen, hat er mir erzählt. Er war eifersüchtig auf jemanden, der so etwas schreiben konnte. Trotzdem glaube ich nicht, dass er zu dem Zeitpunkt bereits an Plagiat dachte oder daran, sich ein fremdes Werk einzuverleiben. Er hat Hexham geschrieben, das Buch gelobt und ihn um seinen Besuch gebeten. Besser gesagt, seine Frau hat für ihn geschrieben. Offensichtlich hat sie seine sämtlichen Schreibarbeiten erledigt. Was genau in diesem Brief – oder auch in den folgenden – stand, wissen wir noch nicht. Vielleicht werden wir das auch nie.«
»Ende Mai bekam Hexham den Brief«, fuhr Wexford in seiner Rekonstruktion fort. »Damals hätte er es seiner Frau erzählen können, aber das hat er nicht getan. Ich stelle mir vor, er wollte abwarten, um sie mit vollendeten Tatsachen zu überraschen. Dann starb sein alter Freund Maurice Davidson, und die Beerdigung wurde auf den 15. Juni festgesetzt. Zufälligerweise war das drei Tage nachdem man John Grimble die Baugenehmigung für mehrere Häuser auf dem Grundstück seines verstorbenen Vaters verweigert hatte. Man hatte den Graben für den Hauptkanal bereits ausgehoben, und jetzt blieb nichts anderes übrig, als ihn wieder zu verfüllen. Hexham schrieb, er würde am 15. in Sussex sein und gegen fünfzehn Uhr Tredown besuchen können.«
Hier unterbrach ihn Barry Vine mit der Frage: »Sir, warum hat man das alles nicht telefonisch erledigt?«
»Die Sache sollte vermutlich weiter geheim bleiben. Vielleicht hätte Diana Hexham den Anruf entgegengenommen. Außerdem hätte dann Tredown
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