Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
entsprechenden Gesetz befassen und prüfen, ob es eine Klausel für eine Anklage wegen beabsichtigter Verstümmelung enthielt, obwohl er schon jetzt, ohne auch nur einen Schritt unternommen zu haben, sämtliche Probleme und Fallen vor sich sah, die dieses Unterfangen nach sich ziehen würde.
Tredown hatte geduscht und war rasiert worden. Diesmal saß er im Bett. Man hatte ihm am Handrücken einen Tropf gelegt. In diesem Stadium sicher eine sinnlose Maßnahme. Aber halt, vielleicht tropften Schmerzmittel durch den Schlauch, um seine letzten Tage erträglicher zu machen. Heute war Tredown noch grüner und blasser im Gesicht, und sein trauriges Lächeln ließ den Schädelknochen unter der Haut noch markanter hervortreten. Diesmal bemerkte er Wexfords eingegipsten Arm und sprach ihn darauf an.
Demnach hatte ihm niemand etwas erzählt. Eines wollte Wexford ihm unter keinen Umständen berichten: dass seine Frau wegen versuchten Mordes angeklagt war. »Ein Sturz«, meinte er. »Ist nur ein einfacher Bruch.«
Tredown gab sich damit zufrieden. »Ich hatte Ihnen von diesem Brief erzählt«, begann er. »Darin stand, wie gesagt, ich könne das Manuskript haben und damit nach Belieben verfahren. Ich habe ihn dahingehend ausgelegt, dass ich es mir … nun ja, aneignen könnte.«
»Aber er hatte doch das Exemplar wieder mitgenommen, oder? Warum hätte er das getan, wenn er es Ihnen hätte überlassen wollen?«
»Er hat es mitgenommen, als er mein … als er den Raum, in dem ich arbeite, verließ. Dort hatten wir uns unterhalten. Am selben Abend hat meine Frau es mir gebracht. Er hatte es ihr gegeben, bevor er gegangen war.«
»Mr. Tredown, meinen Sie damit, dass er es ihr gegeben hat oder dass sie gesagt hat, er hätte es ihr gegeben?«
Tredown runzelte die Stirn. »Das ist dasselbe.«
»Nicht immer«, konstatierte Wexford.
»Ich höre, was Sie damit sagen wollen. Ja, und jetzt werde ich Ihnen etwas verraten: Ich hatte Zweifel, ach, mehr als das, mehr als das.« Der gequälte Unterton in seiner Stimme kam von mentalen Schmerzen, nicht von körperlichen. »Ich habe ihm geschrieben – das heißt, ich habe Maeve beauftragt, ihm zu schreiben. Ich wollte ihm sagen, dass dieses Geschenk zu gewaltig sei, und wollte noch einmal betonen, wie gut das Buch sei, und dass es höchstwahrscheinlich einen Verleger finden und vielleicht viel Geld einbringen würde.«
»Haben Sie ihn nie wieder gesehen?«
»Nicht im richtigen Leben.« Diese Worte und die Art, wie sie gesprochen wurden, riefen in Wexford das unangenehme Gefühl hervor, jemand oder etwas würde sie beobachten. Tredown zitterte. »War alles nur Einbildung«, sagte er. »Abends, wenn ich droben allein war, wenn es schwer geregnet hatte … Aber das ist sinnlos. So darf ich nicht weitermachen.«
Nein, wirklich nicht, dachte Wexford, sonst fange ich noch an zu glauben, Sie seien nicht ganz bei Verstand. »Also haben Sie sich darangemacht, das Manuskript zu bearbeiten?«
Tredown nickte. »Ja, habe ich. Ich habe es eingekürzt. Ich habe einige Szenen stärker gewichtet und andere weniger. Ich habe eine Menge wissenschaftlicher Angaben über prähistorische Lebewesen und Frühmenschen gestrichen. Es enthielt Episoden, die meiner Ansicht nach nicht mit Homer und Ovid übereinstimmten, ich … Aber warum soll ich das weiter aufzählen? Ich habe es mir angeeignet, wie es so schön heißt. Maeve war begeistert, und Claudia ebenfalls. Maeve hat stundenlang für mich getippt – ich kann nicht gut mit der Schreibmaschine umgehen. Sie hat meine handschriftliche Fassung und meine Korrekturen im Originalmanuskript übertragen.«
Wexford bemühte sich sehr, damit es nicht klang, als würde er vorschnell ein Urteil fällen. Dieser Mann stand an der Schwelle des Todes. Er war nur noch ein Schatten seines früheren Selbst und hatte sicher trotz der Infusion Schmerzen. Wexford war zwar über das Gehörte nicht direkt geschockt, aber doch erstaunt, denn in seinen Augen handelte es sich allemal um Niedertracht. Unter dem Druck von Ehefrau und Exfrau war Tredown so auf Geld und Ruhm erpicht gewesen, dass es ihm egal gewesen war, ob der Ruhm, den er einheimste, seinem eigenen oder einem gestohlenen Werk galt. »Ruhm spornt den reinen Geist zu Höhen an …« Allerdings zog die Aussicht darauf nicht nur die reinen Geister an, sondern manchmal auch Gierige und Diebe. Denn Tredown hatte selbstverständlich gewusst, dass hier Diebstahl im Spiel gewesen war und vielleicht noch Schlimmeres, was ihn
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