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Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Titel: Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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herein!«
    Akande voran, gefolgt von Sylvia. Im Flur war es dunkel. Nur in der Küche, am Ende des Flurs, brannte Licht. Es schimmerte am Türrand. Sie liefen darauf zu. In dem Glauben, die Tür sei versperrt, trat der Arzt mit dem Fuß dagegen, aber sie flog auf, und er wäre beinahe kopfüber ins Zimmer gestürzt. Die Frau in einem langen schwarzen Gewand, die sich mit einem offenen Rasiermesser in der ungeschützten Hand über das Kind gebeugt hatte, trat einen Schritt zurück. Damit gab sie für alle den Blick frei. Auf dem mit einem Handtuch bedeckten Küchentisch lag ein kleines Mädchen. Splitternackt. Reeta Imran, die Mutter des Kindes, stieß einen schockierten Laut aus und warf ein Bettlaken darüber. Später würde Hannah Wexford berichten, dass die Mutter mehr entsetzt gewesen war, weil ein Mann, wenn auch ein Arzt, ihr unbekleidetes kleines Mädchen gesehen hatte, als über das Ritual, das die Beschneiderin soeben hatte durchführen wollen.
    Die von Kopf bis Fuß völlig zugedeckte Shamis fing an zu schreien und schlug um sich. Sie kämpfte sich unter dem Laken hervor und warf sich in die Arme ihrer Mutter. Zum zweiten Mal packte Mrs. Imran das Laken und wickelte sie ein. Hannah trat zum Tisch, wo das restliche Werkzeug der Beschneiderin lag, und musterte es: ein Messer und eine Schere. Nichts, was man zum Sterilisieren hätte verwenden können, keinerlei Medikamente. Eine Rolle Nähgarn, ein Knäuel Gartenschnur. Vermutlich würde man die blutigen Wundsäume mit einem Stück Nähgarn zusammennähen und Shamis nach geschehener Tat mit einem Stück Schnur die Beine zusammenbinden. Die Beschneiderin war höchstens fünfzig, auch wenn sie mit ihrem braunen, fast zahnlosen Faltengesicht wie siebzig aussah. Völlig reglos starrte die Frau Hannah an, dann legte sie das Rasiermesser auf den Tisch und sagte zu Mrs. Imran etwas auf Somalisch.
    Eigentlich sollte ich sie verhaften, dachte Hannah, oder Reeta, oder beide. Aber mit welcher Begründung? Sie haben nichts getan, und ich kann mir nicht wünschen, sie hätten ihre Tat bereits umgesetzt, nur damit ich sie verhaften könnte. Trotzdem kann ich sie nicht einfach hier bei dem Kind lassen. Hannah hatte nur einen Gedanken: Diese Frau war im Besitz einer Angriffswaffe gewesen. War es möglich, sie zu verhaften, weil Verdacht auf eine illegale Handlung bestand? Was dann geschah, geschah beinahe unbewusst und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Hannah riss Shamis aus den Armen ihrer Mutter und zog das Laken weg. Es war blutig. Ein langes Blutgerinnsel lief quer über Shamis’ linken Oberschenkel. Hier hatte das Rasiermesser sie oberflächlich gestreift. Sie waren gerade noch rechtzeitig gekommen.
    »Sie müssen auf die gegen Sie erhobene Anklage nichts erwidern«, begann sie und sah rasch zu Sylvia hinüber, der Tränen übers Gesicht liefen.

26
    _____
    Am Vormittag begab sich Wexford wieder ins Hospiz. Er fühlte sich, als sei er mit Glück um Haaresbreite davongekommen. Wenn er grünes Licht gegeben hätte und Amara Ali und Reeta Imran vor Gericht erscheinen hätten müssen, wäre das Verfahren eingestellt worden, und er hätte wegen Rassismus, Sexismus und voreiliger ungerechtfertigter Schlüsse nur Hohn und Spott geerntet. Anfänglich war er auf Hannah ziemlich wütend gewesen. So etwas wäre Karen nicht passiert, aber Karen war nicht dabei gewesen. Warum war Hannah nicht auf die Idee gekommen, dass die Frau einfach behaupten würde, Shamis habe nur deshalb auf dem Tisch gesessen, weil sie ihr nach der Haarwäsche die Nackenhaare ausrasieren wollten? Und die Blutspur? Als drei Leute plötzlich die Wohnung gestürmt hätten, wäre Amara Ali vor Schreck die Hand ausgerutscht. Mitten auf dem Heimweg hatte er gestern Abend am Telefon erfahren, dass die beiden Frauen in Untersuchungshaft saßen. Er hatte kehrtgemacht, war zurückgefahren und hatte beide fast kommentarlos gehen lassen.
    Während er nun darauf wartete, dass man ihn zu Tredown ins Zimmer ließ, fielen ihm Dinge ein, die er bisher noch gar nicht bedacht hatte. Naiverweise hatte er angenommen, die Verstümmelung von Mädchen verhindern zu können. Vielleicht konnte er das ja auch, allerdings erst, nachdem einige bereits verstümmelt worden waren. Eine Anklage hatte nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn man eine Beschneiderin auf frischer Tat ertappte, oder wenn die Tat erst vor Kurzem geschehen war und man der armen verstümmelten Kleinen die Beine zusammengebunden hatte. Später würde er sich mit dem

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