Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Sie schnell herein«, sagte sie. »Bitte, Füße abtreten.« Dann wurde ihr anscheinend klar, dass heute ein schöner, warmer und obendrein trockener Herbsttag war, und sie fügte hinzu: »Nein, verstehe. Es regnet ja gar nicht.«
Das Innere des Gebäudes bestätigte Wexfords Meinung, dass sich viktorianische Baumeister (Architekten?) größte Mühe gegeben hatten, um grässliche Inneneinrichtungen zu kreieren. Gewiss hatte Lewis Carrol genau an solche Bilder gedacht, wenn er das Wort »Verschandelung« benutzte. Statt einer Diele gab es einen Flur, der durch die hohe Decke und eine Tapete mit grün-gelben Längsstreifen schmaler wirkte, als er eigentlich war. Eine Art Mosaik aus schwarzen und ockerfarbenen Fliesen bildete den Bodenbelag. Anscheinend wollte man möglichst viel von der Innenausstattung verstecken, denn an den Wänden hingen reihenweise Garderobehaken mit Bergen von Mänteln, Umhängen, Trenchcoats, Regenmänteln, gewachsten Jacken, Dufflecoats und Strickjacken – genug, um zwanzig Leute vor schlechtem Wetter zu schützen –, während auf den gelb-schwarzen Fliesen paarweise das dazu passende Schuhwerk stand: Stiefel, Halbschuhe, Turnschuhe und noch etwas, was Wexford schon jahrelang nicht mehr gesehen hatte – Galoschen. Der klägliche Rest der Wände war mit Koffern und Einkaufstaschen zugestellt.
»Hier herein«, sagte Maeve Tredown, wobei sie eine Tür öffnete.
In dem großen Raum war es eiskalt, obwohl es draußen inzwischen annähernd zwanzig Grad hatte. Die Fenster gingen nach Norden hinaus und boten einen Blick auf eine hauptsächlich von immergrünen Bäumen gerahmte Rasenfläche. Das Zimmer war mit unscheinbaren Stühlen, Sofas und Tischchen möbliert. Der rot-braun gemusterte Teppich erinnerte Wexford an einen Teller, von dem jemand Fischstäbchen und Pommes frites mit Tomatenketchup und einem ordentlichen Schuss Essig gegessen hatte. Das markante Element in diesem Zimmer waren Bücher. An drei Wänden standen Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Bücher in schlichten raumhohen Holzregalen. Die vierte Wand bestand aus einem großen Fenster, das dringend geputzt werden musste. Davor stand, mit dem Rücken zu ihnen, eine große schmale Frau mit langen schwarzen Haaren und sah hinaus.
»Sie sollten sich setzen.«
Maeve Tredown klang, als bedauere sie jedes herausgepresste Wort. Sie war eine zierliche rundliche Frau mit einem netten rosigen Schweinchengesicht und gefärbten blonden Haaren. Garantiert eine harmlose Frau, die keiner Fliege etwas zuleide tat. Trotzdem hätte es Wexford – rein gefühlsmäßig – nicht überrascht, wenn man ihm ein Foto von ihr gezeigt und dabei erklärt hätte, sie sei die Oberschwester in einem stadtbekannten rüden Altenheim oder die Chefin eines brutalen Ausbildungslagers. Das lag an ihrer knappen abgehackten Redeweise, an dem eiskalten Ausdruck ihrer hellblauen Augen und an ihrem strengen grauen Flanellanzug.
»Ich habe keine Ahnung, was Sie wollen.« Verstohlen warf sie einen Blick zu der zweiten Frau hinüber. Anscheinend überlegte sie, ob es sinnvoll sei, sie vorzustellen. Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass es sich nicht umgehen ließ, und meinte: »Claudia, ich nehme an, diese Herren wollen sich mit dir ebenso unterhalten wie mit mir.«
Als sich die Schwarzhaarige umdrehte, löste sie einen leichten Schock aus. Während sie von hinten wie fünfundzwanzig ausgesehen hatte, ließ sie, von vorn betrachtet, trotz des Schattens, der über ihr Gesicht fiel, erkennen, dass sie nahe an die Sechzig herankam. Sie war ungeheuer schlank, wie jene von Natur aus schlanken Frauen, die weder Diäten noch Heißhungerattacken kennen, und hatte tiefe Gesichtsfalten. Beim Näherkommen streckte sie ihnen lächelnd eine lange schmale Hand entgegen, auf der die Venen stark hervortraten. Und augenblicklich verwandelte sie sich in eine wahre Schönheit, an der die Zeit genagt hatte.
»Guten Tag, ich bin Claudia Ricardo. Also, während meiner Ehe mit Owen hieß ich Tredown, aber nach unserer Scheidung habe ich wieder meinen früheren Namen angenommen. Mein Mädchenname war Ricardo, obwohl ich nicht sehr lange ein Mädchen gewesen bin.«
Mit solchen Bemerkungen konnte Burden weniger gut umgehen als Wexford. Er tat, als hätte er nichts gehört, und meinte im gleichmütig-düsteren Ton eines Streifenpolizisten, es gäbe da ein paar Fragen. Wexford hätte sich wahrscheinlich auf Mrs. Tredowns Kosten einen Spaß erlaubt und sich auf einen Wortwechsel mit Claudia
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