Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
praktisch das ganze Dorf auf der Suche nach ihm ausgerückt.«
»An diesen Fall erinnere ich mich noch«, sagte Wexford, »und zwar gut. Und du sicher auch, Mike.«
»Ich war an der Suche beteiligt. Damals haben wir die ganze Gegend auf den Kopf gestellt. Es war wie die Suche nach einem Kind.«
»Vermutlich ist er tatsächlich ein Kind gewesen«, bemerkte Wexford traurig. Den nächsten Satz behielt er für sich. Hoffentlich entpuppen sich die kläglichen Überreste von Grimble’s Field nicht als Cummings Leiche. Mir wäre es lieber, wenn er in Brighton wieder auftauchen würde, wo er mit einer lieben Frau zusammenlebt, die genauso kindlich ist wie er. »Doch jetzt weiter. Während Sie, Lyn, sich mit Hannah und vielleicht auch noch mit Damon daranmachen, ehemalige Hausbesitzer in der Pump Lane und in der Kingsmarkham Road ausfindig zu machen, werden wir beide, Mike, uns noch einmal mit Grimble zusammensetzen.«
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Ein Anruf bei Theodore Borodin in dessen Londoner Wohnsitz ergab, dass Ronald und Irene McNeil ihm vor sieben Jahren Flagford Hall verkauft hatten. Es handelte sich um ein großes, um nicht zu sagen herrschaftliches Haus, dessen Unterhalt dem älteren Ehepaar über den Kopf gewachsen war.
»Sie waren allmählich in die Jahre gekommen«, meinte Borodin, »und es war absehbar, wann sie nicht mehr Auto fahren konnten. Sie brauchten einen Wohnsitz in der Nähe der Einkaufsmöglichkeiten. Der einzige Laden von Flagford ist ein hoffnungsloser Fall. Der alte McNeil war achtzig, und sie nicht viel jünger. Jetzt kommt es mir wieder: Irgendjemand hat mir erzählt, er sei gestorben.«
»Aber als dieser Mord passiert ist und man im Anschluss daran die Leiche begraben hat, da müssen die beiden doch noch dort gewohnt haben«, sagte Damon Coleman.
»Mit Sicherheit.« Borodin erging sich weiter in unnötig detaillierten Beschreibungen des damaligen Zustands von Flagford Hall. Welche enormen Summen er dafür habe aufwenden müssen, und wie kostspielig der Unterhalt angesichts der Tatsache sei, dass er das Anwesen ja nur am Wochenende benutze. Schließlich unterbrach Damon ihn höflich und bedankte sich für seine Hilfe.
Das ziemlich große, freistehende Haus war höchstens acht Jahre alt und lag nicht weit von Wexfords Wohnsitz entfernt. Damon fuhr auf dem Hinweg dort vorbei. Irene McNeil, eine übergewichtige, schwerfällige Frau, der man ihre vierundachtzig Jahre wahrlich ansah, öffnete persönlich. Im Laufe der Zeit waren ihre Gesichtszüge nach unten gesackt, bis das Kinn nahtlos in den Hals überging und dieser wiederum über den Kragen einer unvorteilhaften grauen Bluse quoll.
Während Damon versuchte, ihre prügeldicken geschwollenen Beine zu übersehen, starrte sie ihn prüfend an und bemerkte dann heiser: »Ich hätte erwartet, dass man einen älteren Beamten vorbeischickt.«
Trotz seiner schwarzen Hautfarbe litt Damon in dem mehrheitlich immer noch weißen ländlichen England gewiss nicht unter Verfolgungswahn und war auch nicht besonders empfindlich, aber der Blick, mit dem ihn Mrs. McNeil vom Scheitel bis zur Sohle maß, um sich dann ungläubig an seinem Gesicht festzusaugen, das mehrere Frauen ungemein attraktiv gefunden hatten, ließ nur eine Interpretation zu: rassistisch.
Nachdem sie ihn aufgefordert hatte hereinzukommen, tappte sie vor ihm schwerfällig durchs Erdgeschoss. Die Inneneinrichtung widerlegte Damons Erwartungen restlos: Sie war hochmodern und minimalistisch, mit Einbauschränken, knallweißen Wänden, schwarzen Fliesen und hellem Parkett. Im Wohnzimmer stachen Mrs. McNeils Antiquitäten und ihre Sessel aus den Fünfzigerjahren von dem strengen Hintergrund befremdlich ab. Während sie sich langsam auf ein mit geblümtem Chintz überzogenes Sofa setzte, zählte sie noch weitere Gründe auf, warum sie und ihr Mann aus Flagford Hall ausgezogen waren. Borodins Erklärung tauchte in dieser Liste nicht auf. Eine dermaßen affektierte und abgehobene Sprechweise hatte Damon noch nie gehört.
Die Nachbarn seien unmöglich, meinte sie, besonders die Hunters und die Pickfords. Mr. Pickford senior habe ihre Katze vergiftet, das wisse sie eindeutig. Und seine äußerst rüde Behauptung, er habe sich nicht an dem Tier vergriffen und außerdem könne ein einundzwanzigjähriger Vogelmörder aus ihrem Besitz nun mal nicht mit dem ewigen Leben rechnen, sei ein einziges Lügengespinst. Mit eigenen Augen habe sie gesehen, wie Mr. Hunter ihr Haus durchs Fernglas beobachtet und sie mit ihrem
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