Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
Hause gewesen. Man könnte das Haus als seinen Stammsitz bezeichnen. Seine Familie hat seit Generationen dort gelebt. Das Haus ist reinster Queen-Anne-Stil, wissen Sie, und die Gärten sind hinreißend, jedenfalls waren sie es. Jetzt sind sie‘s vermutlich nicht mehr. Doch das hier … Man möchte nicht glauben, wie laut es nachts hier ist. Saufbolde, betrunkene junge Mädchen, die auf der Straße herumschreien. Selbst der Tag, an dem Mr. Grimble diesen jungen Mann vor die Tür gesetzt und seine Möbel in den Vorgarten hinausbefördert hat, war nichts im Vergleich zu dem, was ich hier mitmache.«
»Mrs. McNeil, darf ich Sie bitten, sich einmal in die damalige Zeit zurückzuversetzen?«
»Wenn ich das doch nur könnte«, rief Mrs. McNeil verbittert.
»So wie ich es sehe, haben Sie auf Mr. Grimbles Haus nach dessen Tod ein Auge gehabt, damals, als es bereits seinem Sohn gehörte. Daran ist nichts verwerflich. Eigentlich ist es sogar etwas sehr Lobenswertes. Man könnte es direkt als Nachbarschaftswache bezeichnen.« Wexford mied Burdens zynischen Blick. »Haben Sie gesehen, dass viele Leute das Haus betraten, natürlich abgesehen von Mr. John Grimble selbst?«
»Er ist nie viel dort gewesen. Ihn hat es nicht interessiert. Zu Mrs. Hunter hat er gesagt – und Mrs. Hunter hat es wiederum mir erzählt –, es sei nur ein alter Misthaufen. Wortwörtlich. Am besten würde man es verbrennen, und genau das habe er vor, sobald er seine Baugenehmigung bekäme. Auf den Scheiterhaufen mit dem ganzen Zeug, hat er gemeint, und danach abreißen. Wir haben gegen seinen Antrag auf Baugenehmigung Einspruch erhoben, hat Mrs. Hunter gesagt, und ich habe gemeint, wir auch.«
In ihrem einsamen Alter genoss sie es förmlich, einer mitfühlenden Seele ihr Herz, und damit ihre Erinnerungen, auszuschütten. Wenn Wexford wollte, konnte er etwas ausstrahlen, was Menschen, die kaum Gelegenheit hatten, ihren Sorgen und Kümmernissen Luft zu machen, zu intimen Bekenntnissen förmlich einlud. Im Laufe einer Auseinandersetzung über ihrer beider persönlichen Lebensstil hatte seine Tochter Sylvia einmal zu ihm gemeint: »Eigentlich hättest du so ein dämlicher Psychotherapeut werden sollen.«
»Nun, offensichtlich hatten Sie Erfolg. Die Genehmigung wurde verweigert«, sagte er. »Hat sonst noch jemand das Haus betreten? Nicht nur unmittelbar nach dem Tod von Mr. Grimble senior, sondern im Laufe der nächsten Monate und Jahre? Sicher haben Sie auch weiterhin Ihre Beobachtungen gemacht.«
»O ja, ich bin meiner Nachbarschaftswache treu geblieben, wie Sie es nannten.« Offensichtlich sonnte sie sich in ihrer Rolle als örtliche Wachtmeisterin mit Sonderaufgaben. »Zurück zu Ihrer Frage: Mehrere Leute haben das Haus betreten. Eines Abends habe ich dort eine Frau, die in der Apotheke gearbeitet hat, mit einem mir völlig unbekannten Mann verschwinden sehen. Sie können sich ja denken, was die beiden vorhatten.« Als Wexford keinen Kommentar abgab, fuhr sie fort: »Mein Mann hat eines Tages Mrs. Tredown dort hineingehen sehen; damit meine ich die zweite Mrs. Tredown, die mit den gelben Haaren. Natürlich hat keiner von denen die Haustür benutzt, die hatte Mr. Grimble vernagelt. Alle sind heimlich durch die Hintertür geschlichen.«
»Mrs. McNeil, Sie helfen uns sehr.« Sie log. Wexford wusste es. Ihr Tonfall verriet ihm mehr als ihre Körpersprache, denn zu der war sie kaum fähig. Sie verharrte in der für sie einzig möglichen Position und hing wie ein nasser Sack zwischen Kissen und Schultertüchern. Sie gehörte zu jener seltenen Sorte Mensch, die beim Sprechen die Hände ganz ruhig halten. »Können Sie mir sagen, wie diese Leute ins Haus gekommen sind? Alle können doch nicht einen Schlüssel gehabt haben, oder?«
Sofort wurde aus der Lüge Wahrheit. »Ach, er hatte seinen Schlüssel zum Hintereingang immer unter einem Stein vor der Hintertür versteckt.«
»Und das wussten die Leute? Alle?« Jetzt meldete sich Burden. Wexford wäre es lieber gewesen, wenn er sich nicht eingemischt hätte. Er klang barsch und ungläubig, was Mrs. McNeil eindeutig zuwider war.
»Ich mag Ihren Ton nicht, egal wer Sie sind.« Anscheinend hatte sie vergessen, dass sie ihm schon mal begegnet war. »Ich unterhalte mich gerade mit diesem Herrn hier.« Sie wandte sich wieder Wexford zu. »So muss es aber gewesen sein, nicht wahr?«, sagte sie wie das kleine Mädchen, das sie vor langer, langer Zeit gewesen war. »Wahrscheinlich haben es sich die Leute
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