Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
gemeinsames Zimmer für Vivien und mich, und dann hatte mein Vater noch ein Arbeitszimmer. Wir konnten nicht verstehen, warum er es brauchte. Warum konnte er seine ominöse Tätigkeit nicht in unserem Wohnzimmer, das gleichzeitig als Esszimmer diente, erledigen oder im Elternschlafzimmer? Dann hätte ich unser gemeinsames Zimmer für mich allein behalten können, und Vivien hätte als die Jüngere von uns beiden das Arbeitszimmer bekommen. Wir bettelten und nörgelten sogar ein bisschen, aber Papa gab nicht nach, und Mama unterstützte ihn selbstverständlich darin. Weil ich aber immer bereit bin, Gerechtigkeit walten zu lassen, muss ich gestehen, dass er lange Zeit Geduld hatte. Doch eines Tages sagte er auf seine ruhige entschiedene Art, die keinen Widerspruch duldete: »Jetzt reicht es, ihr zwei. Ich möchte nichts mehr davon hören. Schluss. Aus. Ende. Verstanden?«
Vivien widersprach ein bisschen und maulte herum. Heute würde sie das vermutlich sogar zugeben. Da verhängte Papa die einzige Strafe, die wir je bekommen hatten: »Na schön, Vivien, du gehst jetzt in das Zimmer, das du unbequemerweise mit Selina teilen musst, und bleibst dort, bis ich sage, dass du wieder herunterkommen kannst.« Und damit war die Sache erledigt. Bis zum Einreichen seiner Magisterarbeit kann es nicht gekommen sein, denn wenn er einen Magister bekommen hätte, hätten wir es erfahren und sicher gemeinsam gefeiert. Das alles erwähne ich, weil wir nie genau herausgefunden haben, was er in diesem Arbeitszimmer gemacht hat, obwohl wir alle überzeugt waren, dass es mit ein Grund für seine Abreise gewesen ist. Sonst teilte niemand diese Ansicht, weder die Polizei, die sowieso kein Interesse zeigte, noch seine Freunde oder unsere Großeltern. Alle glaubten, er sei mit einer anderen Frau durchgebrannt, aber das war unmöglich. Und das wussten wir auch.
Es war Donnerstag, der 15. Juni 1995. Papas Schule wurde als Wahllokal für die Gemeindewahl benötigt und war deshalb geschlossen. Zufällig sollte an diesem Tag ein alter Freund meines Vaters beerdigt werden. Da die Schule geschlossen war, konnte er an der Beerdigung teilnehmen, was er unbedingt wollte. Mama hätte ihn gern begleitet, aber das kam nicht in Frage, weil wir beide um fünfzehn Uhr dreißig nach Hause kamen. Meine Mutter gehörte nicht zu jener Sorte, die ihre Töchter mit zehn und zwölf Jahren in ein leeres Haus kommen ließ.
Die Beerdigung fand in Lewes, Sussex, statt. Das liegt an der Strecke nach Brighton. Ich habe gesagt, dass ich mich an diesen Tag noch deutlich erinnere, und so ist es auch. In der Früh war es nass und um acht Uhr morgens noch ungewöhnlich dunkel; deshalb hatten Vivien und ich verschlafen. Mama musste uns zweimal wecken kommen, und als wir endlich aufstanden, mussten wir uns hetzen. Hetzen war etwas, was sie in ihrer geordneten und organisierten Art hasste, und ich weiß noch genau, wie sie uns beim Frühstück ziemlich gereizt erklärte, es sei lächerlich, dass wir unbedingt noch einen Toast haben wollten, wo wir doch bereits Weetabix und Orangensaft bekommen hätten. Bildeten wir uns etwa ein, wir würden vom Fleisch fallen, wenn wir einmal ohne eine Scheibe Marmeladebrot gehen müssten? Papa aß nichts. Daran erinnere ich mich noch, weil es so ungewöhnlich war. Zwischen den Mahlzeiten aß er nie etwas, aber er ließ auch keine aus. An diesem Morgen tat er es und trank nur eine Tasse Kaffee. Als dann später Angst und Schrecken über uns hereinbrachen, meinte Mama, sie habe geglaubt, er sei wegen Maurice Davidsons Beerdigung so aufgeregt gewesen, dass er nichts hatte essen können.
Martin und Mark Saunders, die Nachbarjungen, kamen uns abholen, und man verfrachtete uns schleunigst in die Schule. Wir gaben Papa einen Kuss, was wir nicht immer machten. Vermutlich auch damals nicht, aber während die Jungs warteten, kam er nacheinander zu jeder von uns und umarmte uns. Bis zum heutigen Tag spüre ich noch seine Hände auf meinen Schultern und seine Lippen auf meiner Wange. Dieser kurze kostbare Körperkontakt wird mich stets begleiten. Die letzte Berührung unseres geliebten Vaters, den wir nie wieder sehen sollten. Vivien sagt, ihr gehe es genauso.
An diesem Vormittag hatte ich zuerst Mathematik, dann Musik und zum Schluss Sport. Nachmittags gab es eine Doppelstunde Naturwissenschaften, in der wir eine Schulaufgabe schrieben. Wegen unserer Gespräche mit Papa beim Tee und wegen unserer Besuche im Naturkundemuseum weiß ich, dass ich die
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