Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
hätte geglaubt, dass es Notwehr gewesen ist.«
Sie hätten es darauf ankommen lassen können, dachte Wexford. Sie hätten, wenn auch spät, einfach zu dem Schluss kommen können, dass Ehrlichkeit das beste Prinzip ist. Was war das alles nur! Eine einzige Litanei von Torheiten – und doch glaubte er sie. Diese beiden selbsternannten Bürgerwächter hatten sich irgendwie überzeugend eingeredet, die Überwachung des Hauses sei ihre Aufgabe. Oder war alles schlicht und einfach nur unersättliche Neugier gewesen? Hatte ein fast kindischer Drang zum unerlaubten Betreten fremder Grundstücke, zum Überschreiten von Regeln, ihr langweiliges Leben bestimmt?
»Haben Sie ihn fortgeschafft?«, fragte er.
»Allein hätte es Ronald nicht gekonnt. Er war auf meine Hilfe angewiesen.« Es war ein Jammer, aber anscheinend war sie stolz darauf. »Wegen all der anderen Leute, die ins Haus gekommen sind, haben wir es nicht gewagt, ihn dort liegen zu lassen.«
»Sie haben ihn also in den Keller hinuntergeschafft?«, warf Burden ein.
»Er hatte ja nichts an … na ja, nur seine Unterwäsche. Deshalb war er ja ins Bad gegangen, hat Ronald gemeint. Vielleicht dachte er, er könne ein Bad nehmen, oder sich einfach nur waschen.«
Sie fing an, gespenstisch zu kichern. Es klang fast wie ihr Schluchzen, aber ganz anders als das Gegacker der Damen Tredown. »Um ihn nach unten zu bringen, haben wir ihn in Zeitungspapier eingewickelt. Im Keller lagen Zeitungen herum. Ich bin hinunter und habe Papier geholt, und darin haben wir ihn dann eingewickelt. Wir haben ihn in den Keller gelegt, und mein Mann hat Holzscheite und Bretter und Schachteln über ihm aufgetürmt, und dann haben wir ihn liegen gelassen. Ronald hat gemeint, das müsse reichen, bis er eine Idee hätte, wie man ihn beseitigen könnte. Vielleicht könnte man ihn verbrennen oder begraben. Leider wusste er nicht, wo.«
»Aber das haben Sie nie getan?«
»Nein, haben wir nicht.« Bekümmert blickte sie zu ihnen auf. »Am nächsten Tag hatte Ronald seinen ersten Schlaganfall. Danach hätte er niemanden mehr verbrennen oder begraben können.«
»Mrs. McNeil, haben Sie beim Weggehen die Kellertür zugemacht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Damals nicht. Erst, als ich wiederkam.«
Das Zentrum von Kingsmarkham war am Samstagabend kein erstrebenswerter Aufenthaltsort, schon gar nicht für über Vierzigjährige. Kingsmarkham war einmal ein ruhiges Landstädtchen gewesen, verschlafen und friedlich, aber heutzutage hätte man genauso gut auf dem Picadilly Circus sein können. Massen von Säufern waren unterwegs und drängten wegen des ungewöhnlich warmen Novembers aus den Pubs und Clubs auf die Gehsteige hinaus. Wexford bat Donaldson, sie zum Gooseberry Bush zu fahren, einem kleinen Pub am Kingsbrook, und meinte, er müsse nicht auf sie warten, sie würden von dort aus zu Fuß heimgehen. Das Lokal war weder überfüllt noch menschenleer. Junge Leute ohne Auto hatten keine Lust auf einen halbstündigen Spaziergang aus der Stadt heraus, auf schmalen Wegen am Rande von Feuchtwiesen entlang. Auf dem Parkplatz standen Fahrzeuge, wie sie Leute mittleren Alters bevorzugten. Wenn man dem Parkplatz den Rücken zudrehte, konnte man vom Tisch aus direkt in einen klaren Sternenhimmel blicken und auf einen Mond, dessen bleiches Licht die von dunklen Hecken umrahmten Wiesen und die Weiden am Ufer das Kingsbrook beschien.
»Das war schrecklich«, erklärte er unumwunden. »Eigentlich hätte ich härter vorgehen müssen, aber sie hat mir so leidgetan.«
»Hat sie noch mehr gesagt, nachdem ich gegangen war?« Burden hatte das Haus verlassen und sich draußen ins Auto gesetzt.
»Nur dass sie die Leiche nie bewegt haben. Sie haben ihren ursprünglichen Plan nie durchgeführt, ihn zu verbrennen oder zu begraben. Na ja, dass es so war, wissen wir. Sie sind umgezogen und haben die Leiche dort drinnen liegen gelassen, unter all den Holzscheiten.«
Burden bestellte für sie etwas zu trinken, ohne Wexford nach seinen Wünschen zu fragen. Er kannte sich aus. »Und genauso sah es noch aus, als Damon und ich die Leiche fanden.«
»Ihr Mann ist gestorben. Vermutlich hat das schockierende Bewusstsein, dass er einen Mann getötet hatte, den ersten Schlaganfall ausgelöst. Sie hatte immer noch geglaubt, sie würde noch einmal in den Bungalow gehen und nachsehen, ob die Leiche dort bleiben könne, hat es aber nicht getan. Jedenfalls nicht bis vor zwei Jahren. Mrs. Pickford hatte sie zum Tee eingeladen. Sie
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