Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
herausstellen, dass es eine ganz einfache Erklärung dafür gab, dass Papa nicht heimgekommen war. Doch daran glaubte sie selbst nicht, das merkten wir, und nach einer Weile meinte sie, wir müssten nicht gehen. Es sei für uns besser, wenn wir hier bei ihr wären, sie bräuchte uns hier. Und dann schluchzte sie auf. Es klang schrecklich, als wollte ihr das Herz brechen.
Gegen neun Uhr ging sie mit uns aufs Polizeirevier. Sie hatte nicht gelogen, sie wollte nirgendwo ohne uns sein. Sie füllte die Vermisstenanzeige aus, und der Polizist, der sich um uns kümmerte, meinte, sie solle sich keine Sorgen machen, Papa käme sicher heute noch zurück. Eigentlich, meinte er, würde die Polizei gar nicht ernsthaft suchen, wenn gesunde kräftige Männer in seinem Alter verschwänden. Papa war vierundvierzig. Bei Kindern, jungen Mädchen oder alten Leuten sei das etwas ganz anderes. In seinem Alter kämen die meisten Männer – er sprach von »der überwiegenden Mehrheit« – binnen zweiundsiebzig Stunden wieder zurück. Meine Mutter bedankte sich bei ihm für seine Freundlichkeit, aber schon zu diesem frühen Zeitpunkt war ihr klar, dass mein Papa nichts von dem gemacht hatte, was die anderen Leute unterstellten: Er war mit keiner anderen Frau durchgebrannt, er war nicht abgehauen, um irgendwo ein neues Leben anzufangen, er hatte keine Sauftour unternommen, nach der er in einem fremden Bett aufgewacht war und dann Angst gehabt hatte, heimzukommen. Schon damals behauptete sie ständig, er müsse tot sein.
Nächste Woche: Selina versucht, die Geheimnisse im Leben ihres Vaters Alan Hexham zu ergründen. Ein Ausschnitt aus Spurlos verschwunden: Der verlorene Vater von Selina Hexham. Erscheint im Januar 2007 im Verlag Lawrence Busoni Hill.
13
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Zuerst hatte Damon Coleman sie befragt, später auch Burden. Beide schilderten sie in ihren Berichten als schwierig, leicht reizbar und altmodisch. Wexfords einziger Berührungspunkt mit Mrs. Irene McNeil war jener Brief gewesen, den sie ihm geschrieben hatte. Daraufhin hatte er eine zutiefst konservative, snobistische Frau erwartet, deren Ethos in einem anderen, längst vergangenen Zeitalter wurzelte. Trotzdem dachte er, er würde mit einem Menschen ein Gespräch führen, der mehr Gespür und Würde besaß als die Damen Tredown.
Mit einem hatte er allerdings nicht gerechnet: Diese Frau tat ihm leid. Nein, nicht ihr plumper massiger Leib erregte sein Mitleid, und auch nicht die Tatsache, dass sie am Stock gehen musste und demnächst zwei benötigen würde. Es lag auch nicht an ihrer offen gezeigten Verzweiflung, weil sie weder mit ihrer Behinderung noch mit ihrer schmerzhaften Arthrose fertig wurde. Der Auslöser war ein verwirrter Ausdruck in ihren Augen, weil sie sich am Ende ihres Lebens allein, ohne Kinder, Freunde und Gefährten, in einem Haus wiederfand, das auf sie immer noch neu und fremd wirkte. Er müsse behutsam und rücksichtsvoll sein, sagte er sich, egal was sie ihm erzählen würde, egal was er und Burden aus ihr herausbekämen.
Das Haus, das sie und ihr Mann gekauft hatten, weil es in der Nähe von Geschäften und an einer Buslinie lag – der Bus fuhr täglich zweimal – und »pflegeleicht« war, war eindeutig für ein junges berufstätiges Paar gedacht gewesen. Es war nüchtern eingerichtet, hatte Einbauschränke, Punktstrahler an den Zimmerdecken und Laminatböden. Mrs. McNeils üppig gepolsterte und mit Ziernägeln versehene Samtmöbel wirkten in dieser minimalistischen Umgebung leicht pathetisch. Ihre vielen Schemel, die Kissen und ihr Nippes schienen sich gegenseitig den Platz streitig zu machen.
Vor acht Jahren hatte ihr Mann seinen ersten Schlaganfall erlitten und war sechs Monate nach dem Umzug verstorben. Damals hatten sie sich laut Mrs. McNeil immer noch in dem Stadium befunden, in dem sie sich gegenseitig versicherten, sie würden schon noch Fuß fassen und sich eingewöhnen. Sie hatte sich allein daran gewöhnen müssen. Wexfords Fragen nach Flagford Hall, dem Haus, das sie zurückgelassen hatte, löste eine wahre Erinnerungsflut aus. Mrs. McNeil kannte nur einen Tonfall, einen gleichmäßigen Jammerton. Es war die Stimme einer Frau, deren ganze Lebensfreude in der Vergangenheit begraben war und der die Gegenwart nur Mühsal und Plage bedeutete.
»Dort hatten wir es gemütlich und friedlich, auch wenngegenüber dieser schreckliche Mensch wohnte, dieser Grimble.« Schweißtropfen perlten über ihre Wangen. »Die Familie meines Mannes war dort zu
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