Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
meisten Fragen richtig beantworten konnte. Aus demselben Grund bin ich heute auch Biologin. Wir gingen nach Hause, diesmal nicht mit den Jungs, sondern mit einer ganzen Horde. Erst an unserer Straßenecke verteilten sich die anderen in verschiedene Richtungen. Es hatte fast den ganzen Tag geregnet, doch jetzt klarte es auf, und zwischen den schweren Wolken schien matt die Sonne hervor. Wie so oft erwartete uns Mama schon am Gartentor. Sie meinte, sie sei herausgekommen, weil sie schauen wollte, ob es zu regnen aufgehört hätte, aber meiner Meinung nach wollte sie uns einfach heimkommen sehen.
Papa wurde erst am frühen Abend zu Hause erwartet. Lehrerkinder sind gewohnt, dass ihr Vater zur Teestunde daheim ist, wenn seine Schule einigermaßen in der Nähe liegt. Wir vermissten ihn. Ich weiß noch genau, dass ich ihm unbedingt von meiner Biologieschulaufgabe berichten wollte, bei der ich vermutlich gut abgeschnitten hatte. Bis heute erinnere ich mich noch, was es zum Tee gab. Ist das nicht komisch? Brot und Butter und Marmite, dazu selbstgebackene Scones und für jede von uns einen Riegel Kit-Kat. Heutzutage gibt es in den Familien angeblich keine gemeinsamen Mahlzeiten mehr, während das bei uns die Regel war. Wahrscheinlich waren wir altmodisch. Papa hatte kein Handy, obwohl sie damals schon ziemlich weit verbreitet waren; deshalb erwartete meine Mutter auch keinen Anruf von ihm. Als es aber kurz vor achtzehn Uhr dreißig war, wurde sie allmählich doch ein wenig unruhig. Wir hatten den Fernseher eingeschaltet, denn inzwischen bildete sie sich ein, in den Nachrichten käme vielleicht eine Meldung über eine Verspätung auf der Strecke nach Brighton. Aber es kam keine. So wurde es neunzehn Uhr, neunzehn Uhr dreißig … Es hatte wieder zu regnen begonnen, und zwar heftig. Um zwanzig Uhr rief Mama bei Carol Davidson in Lewes an, der Witwe von Maurice. Eigentlich wollte sie es nicht tun und meinte, es sei schrecklich, eine Witwe anzurufen, deren Mann nie wieder heimkommen würde, nur weil sich der eigene Mann ein wenig verspätet habe. Die Ahnungslose. Carol Davidson war ganz reizend und sagte lediglich, sie wisse es zu schätzen, dass Papa »die weite Fahrt« auf sich genommen hatte. Man habe sehr nett über Maurice und die alten Zeiten geplaudert. Papa sei noch zum Essen geblieben, aber gegen vierzehn Uhr sei er gegangen. Mama wollte von Carol wissen, ob mit Papa alles in Ordnung gewesen sei, als er ging, was Carol bejahte. Selbstverständlich sei er aufgewühlt gewesen, aber das sei ja natürlich.
Das war vor sechs Stunden gewesen. Ab jetzt begann Mama, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie war überzeugt, er habe einen Unfall gehabt und liege irgendwo im Krankenhaus. Es musste ein schwerer Unfall gewesen sein, und sicher war er bewusstlos, sonst hätte er angerufen oder jemanden anrufen lassen. Eine halbe Stunde später rief sie bei der Polizei an. Dort war man sehr nett und wollte wissen, ob sie ihn als vermisst melden wolle. Dazu müsse sie aufs Revier kommen und ein Formular ausfüllen. Andererseits meinte der Polizist am Telefon, dazu sei es noch viel zu früh. Es bestehe gute Aussicht, dass er wieder zurück sei, sobald sie das Formular ausgefüllt hätte. Er gab ihr die Telefonnummern von zwei Krankenhäusern in der Gegend von Brighton und schlug ihr vor, sie solle dort anrufen und nachfragen. Das tat sie auch, aber Papa lag in keinem der Krankenhäuser. Nach diesem ersten Schritt wollte sie unbedingt weitermachen, und gegen zweiundzwanzig Uhr hatte sie dort unten in sämtlichen Krankenhäusern angerufen, die sie im Telefonbuch gefunden hatte.
Es kam nicht in Frage, dass Vivien und ich ins Bett gingen. Wir blieben gemeinsam mit Mama auf und warteten und hofften. Manchmal taten wir auch etwas Unsinniges: Wir rannten zur Haustür hinaus bis ans Gartentor und schauten nach links und rechts die Straße hinunter. Viv und ich machten das vier- oder fünfmal, bis Mama meinte, wir sollten damit aufhören, weil es so stark regnete und wir klatschnass hereinkamen. Immer wieder sagte sie: »Wenn doch nur der Regen aufhören würde, wenn er doch nur aufhören würde.« Als würde alles nur noch schlimmer werden, weil Papa bei Regen draußen war.
Irgendwann gingen wir dann doch ins Bett, konnten aber nicht schlafen und hörten, wie Mama wieder nach unten ging, herumrannte, wieder hochkam und wieder hinunterging. Am Morgen kam sie in unser Zimmer und sagte, wir müssten zur Schule gehen, denn letztlich würde sich
Weitere Kostenlose Bücher