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Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote

Titel: Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ruth Rendell
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Selbsterkenntnis alles noch schlimmer, als in unserem Viertel, an unserer Schule und sogar in der Kirche, die Mama manchmal besuchte, das Gerücht umging, Papa sei mit Denise Cole durchgebrannt. Natürlich kursierten auch andere Theorien über sein Verschwinden: Er sei hoch verschuldet gewesen – er, der nie bei jemandem auch nur einen Penny Schulden gehabt hatte; er habe an Depressionen gelitten, weil er sich für einen gescheiterten Lehrer hielt – er, der brillante und ungemein beliebte Lehrer; er habe in Lewes – auf einer Beerdigung! – jemanden getroffen, der ihm einen wunderbaren Job mit dem doppelten Gehalt angeboten habe, wenn er auf der Stelle mitkäme. Aber die Lieblingstheorie war und blieb, dass er durchgebrannt sei.
    Denise Cole heißt in Wirklichkeit anders. Es wäre unfair, ihren wahren Namen preiszugeben. Ich bin von ihrer Unschuld ziemlich überzeugt. Weder hatte sie ein Auge auf meinen Vater geworfen noch förderte sie dieses Gerücht. Sie war um die fünfundzwanzig, hatte in der nächsten Straße ein Zimmer gemietet und arbeitete als Kassenaufsicht in einem Supermarkt in der Leyton High Road. Mit sechzehn war sie mit einigen sehr guten Noten von der Schule abgegangen und wollte jetzt unbedingt auf die Universität und Psychologie studieren, um als Sozialarbeiterin tätig zu werden. Ob sie ihren Abschluss gemacht hat und Sozialarbeiterin geworden ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie verheiratet ist und irgendwo im Norden wohnt.
    Papa hatte ihr regelmäßig Nachhilfe erteilt. Meistens ist sie für Biologienachhilfe zu uns gekommen, aber manchmal waren sie auch bei ihr, wo aber immer eine ihrer Freundinnen dabei war. Damals geriet ein Lehrer noch nicht so schnell in Gefahr, beschuldigt zu werden, er hätte eine Schülerin belästigt, mit der er allein gewesen war. Trotzdem hielten es Denise und mein Papa vermutlich für das Beste, auf Nummer sicher zu gehen. Da auch die Freundin für einen Gymnasialabschluss paukte, hatte Papa zwei Schülerinnen zu unterrichten. Niemand hat ihm je ein Verhältnis mit Megan Lloyd unterstellt. Immer war nur von Denise die Rede, weil sie zufällig zwei Tage vor ihm verschwunden ist.
    Ich erinnere mich noch, wie er zu dem Haus ging, wo sie ihr Zimmer hatte, und ziemlich verärgert wiederkam. Einer der anderen Mieter habe ihm erzählt, sie sei »bei Nacht und Nebel« abgehauen, sagte er. Auch Megan war nicht erschienen, auch wenn sie keineswegs verschwunden war. Sie war einfach nicht gekommen, weil Denise ihr erzählt hatte, sie habe auf ihrer Visa-Karte dreitausend Pfund Schulden und wolle irgendwo eine Zeit lang untertauchen, »bis sich der Sturm gelegt hätte«, was auch immer damit gemeint gewesen war.
    Danach haben allmählich alle geglaubt, mein Papa und Denise Cole wären gemeinsam getürmt. Also, wir nicht, und unsere Freunde auch nicht. Wir haben es nicht geglaubt, selbst wenn mein Papa zu jenen Männern gehört hätte, die ihre Frauen mit einem fast zwanzig Jahre jüngeren Mädchen betrogen. Denn wir wussten, dass er nie mit ihr allein gewesen war. Hier im Haus waren immer Mama, Vivien und ich anwesend, und wenn er zu Denise gegangen ist, ist Megan immer dabei gewesen.
    Hat dieses Gerücht, das sich zu mehr als nur einem Gerücht auswuchs, die Polizei beeinflusst? Hat man deshalb nicht nach ihm gesucht? Vielleicht hätte man es sowieso nicht getan. Vielleicht passte er einfach nicht in die Kategorie schwacher Leute. Bis zu einem gewissen Punkt haben wir nach ihm gesucht. Mama hat bei sämtlichen Verwandten angerufen und alle verfügbaren Adressen angeschrieben, wenn auch ohne große Überzeugung. Wie gesagt, sie wusste, dass er tot war. Es war die einzig mögliche Erklärung.
    Ganz im Gegensatz zur Versicherungsgesellschaft; die wusste es nicht. Meine Eltern hatten mit der Baugesellschaft eine jener typischen Vereinbarungen getroffen, wodurch sichergestellt ist, dass beim Tod eines Partners der andere alleiniger Eigentümer der Immobilie wird. Diese Gesellschaft wusste es nicht. Unser Haus würde uns nur gehören, wenn Mama weiterhin die Hypothek abzahlen konnte. Papas Pension bekäme sie nur, wenn sie nachweisen konnte, dass er tot war. Natürlich hätte sie Sozialhilfe beantragen können, aber das kam für sie nicht infrage. Vor ihrer Ehe mit Papa war sie Bibliothekarin gewesen. Sie schaffte es, einen Job in einer Buchhandlung zu bekommen.
    Das alles geschah erst Monate später. Inzwischen lebten wir von ihrem gemeinsamen Konto und von Mamas

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