Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
eine Schublade öffnete und ihm einen Umschlag reichte, sah er, dass sie Tränen in den Augen hatte.
Hexham war einer jener immer seltener werdenden Menschen mit einer schönen Handschrift gewesen. Er hatte die Kunst beherrscht, ganz einfach schön zu schreiben, ohne überflüssige Schnörkel. Auf seiner Liste standen sieben Science-Fiction-Autoren und zwei Autoren von historischen Romanen, von denen mehrere vermutlich nicht mehr sonderlich bekannt waren. In zwei Fällen hatte er neben den Namen Zahlenreihen notiert, bei denen es sich wahrscheinlich um Telefonnummern handelte, und darunter: »Recherchieren? Korrekturlesen? Redigieren?«
»Mr. Wexford«, meinte Selina, während sie wieder ihre früheren Sitzplätze einnahmen, »es ist mir wirklich nicht wichtig, ob Sie den … den Menschen finden, der meinem Vater das angetan hat. Das ist jetzt nicht mehr wichtig, stimmt’s?«
Er schüttelte den Kopf. »In diesem Punkt irren Sie sich. Es ist wichtig. Bisher haben wir es noch nicht ausgesprochen, aber jetzt werde ich es tun. Irgendjemand hat Ihren Vater ermordet, und es wäre falsch, wenn diese Person damit durchkäme und Nutzen aus diesem Verbrechen ziehen würde. Genau das ist meine Aufgabe, hinter der ich voll und ganz stehen muss, so lange es auch dauert. Erstens könnte dieser Mensch erneut zuschlagen, und zweitens ist Mord die schlimmste Untat. Die Gesellschaft muss den Täter schon deshalb bestrafen, damit es ihr … gut geht.«
»Vermutlich haben Sie recht. Was wollten Sie mich fragen?«
»Erstens: Können Sie sich denken, warum Ihr Vater nach Flagford gefahren ist? Hatte er dort einen Bekannten?«
»Lewes war der einzige Ort, den er in Sussex je betreten hat, mit Ausnahme von Worthing, wo wir alle zusammen einmal Ferien gemacht haben. Und das auch nur wegen Maurice Davidson. Sie hatten sich auf der Universität angefreundet, obwohl Mr. Davidson schon in den höheren Semestern war. Er war viel älter als Papa. Sie haben sich nicht oft gesehen. Meistens nur, wenn Mr. Davidson nach London kam, glaube ich. Einmal sind wir alle gemeinsam zum Mittagessen hinausgefahren. Das war im Sommer, und ich glaube, es sollte ein Picknick werden. Davon weiß ich nicht mehr viel. Ich war damals erst vier.«
»Lewes liegt von Flagford ziemlich weit weg«, konstatierte Wexford. »Ich werde jetzt einige Namen aufzählen und Sie bitten, mir zu sagen, ob Ihr Vater sie jemals erwähnt hat. Falls Sie sich noch daran erinnern können.«
»Das wüsste ich noch.«
»Gut.« Langsam und deutlich nannte er die Namen, wobei er dazwischen immer eine Pause machte und ihr Gesicht beobachtete: »McNeil. Hunter. Pickford. Grimble. Tredown.«
»Tredown«, rief sie. »So heißt der Schriftsteller, der den Roman Der erste Himmel geschrieben hat.«
»Ganz genau«, sagte Wexford. »Sein Name steht nicht auf dieser Liste. Hat Ihr Vater nie von ihm gesprochen?«
»Meiner Meinung nach war Der erste Himmel damals noch gar nicht erschienen.«
»Mir sind zwei seiner früheren Bücher in Ihrem Regal aufgefallen. Haben sie Ihrem Vater gehört?«
»Ja, entweder ihm, oder meiner Mutter.«
»Und bei McNeil, Grimble, Pickford oder Hunter klingelt es nicht? Louise Axall? Theodore Borodin?«
»Ich glaube nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum mein Vater ein Dorf mitten in Sussex besucht haben sollte. Gibt es dort einen Bahnhof?«
»Nicht in Flagford. Erst ein paar Kilometer weiter weg, in Kingsmarkham. Wer nach Flagford wollte, hätte ein Taxi nehmen müssen, wenn er nicht ein begeisterter Spaziergänger gewesen wäre. War er denn das?«
»Mr. Wexford, damals hat es geschüttet. Da hätte er gewiss nicht versucht, zu Fuß zu gehen.«
Wexford dachte nach. »Hatte er etwas mitgenommen? Auf solche Sachen achtet ein Kind nicht allzu sehr, das ist mir klar.«
»Vivien und ich waren schon unterwegs zur Schule, bevor er aufgebrochen ist.« Ihre Stimme zitterte ein wenig, und sie räusperte sich, um den Hals frei zu bekommen. »Seinen Regenmantel hatte er bereits an. Er hatte keinen Schirm; so etwas trug er nie bei sich. Dass er seine Aktentasche mitnehmen wollte, weiß ich, weil er sie noch wenige Minuten zuvor geöffnet und hineingeschaut hatte. Damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht, aber ist es nicht seltsam, wenn man auf eine Beerdigung eine Aktentasche mitnimmt?«
»So seltsam vielleicht auch wieder nicht. Als begeisterter Leser hatte er vielleicht ein Buch zum Lesen während der Zugfahrt dabei. Oder eine Zeitschrift? Eine
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