Inspector-Wexford 22 - Der vergessene Tote
die scharfe Aufforderung eintrug, sie sollten weitermachen. Man brachte sie in ein Verwaltungsbüro, wo ihnen Bailey mit Stolz erklärte, man würde über sämtliche Mitarbeiter mit Name und Heimatadresse Buch führen, selbst wenn es sich, wie in jüngster Zeit, um Adressen in Sofia, Krakau oder an der Schwarzmeerküste handle.
Eine der Frauen am Computer erbot sich, für September 1998 eine Liste mit sämtlichen Namen und Adressen auszudrucken, und übergab Barry ein Blatt mit einer imposanten Liste von Arbeitern. Schon der erste flüchtige Blick darauf verriet ihm, dass man keinen dieser Leute aus Osteuropa geholt hatte. Nun ja, in den dazwischenliegenden acht Jahren war viel passiert.
»Von diesen Leuten haben ziemlich viele keine Heimatadresse«, konstatierte er.
»Na ja, wie sollten sie auch? Nicht wenn es sich um fahrendes Volk gehandelt hat.«
Barry zählte zweiundzwanzig Namen, darunter zwölf Frauen. Soweit er erkennen konnte, ließ sich daraus nicht schließen, wer sein Mann gewesen war – selbst wenn man davon ausging, dass er für Morella’s gearbeitet hatte.
»Mir ist klar, dass ich auf diese Frage keine Antwort erwarten kann«, sagte Damon, »aber erinnert sich vielleicht jemand von Ihnen an einen Mann in einem T-Shirt mit einem schwarzen Skorpion und dem Namen ›Sam‹ darauf?«
»Komisches Haustier«, rief die Frau, die die Liste ausgedruckt hatte, »aber der Herrgott hat nun mal einen großen Tiergarten.«
Als das Gelächter verebbt war, erklärte Damon, es handle sich nicht um einen lebenden Skorpion, sondern nur um einen Aufdruck auf dem Stoff, und zeigte ihnen das Foto. Alle betrachteten es, Bailey noch konzentrierter als die anderen, aber dann hieß es: »Nein.« Und damit sprach er für alle. »Nein, da klingelt nichts bei mir.«
Ein Anruf seiner Tochter Sheila entschied über Wexfords Abendbeschäftigung. »Paps, hast du schon das Buch gelesen, das ich dir gegeben habe?«
» Der erste Himmel ? Nein, hab ich nicht.« Und dann fügte er wie früher als kleiner Junge hinzu: »Muss ich denn?«
»Na ja, ich dachte, in Anbetracht der Tatsache, dass ich in dem Film die Hauptrolle spiele, würde es dich interessieren.«
»Ich werde es versuchen«, sagte er reichlich niedergeschlagen. Komisch, irgendwann einmal kam die Zeit, da begannen die eigenen Kinder mit einem zu reden, wie man selbst mit seinen Eltern geredet hatte. Und man gab ihnen fast dieselben Antworten wie damals den Eltern. Die Spanne zwischen der Zeit, in der man sich den Einschränkungen durch Mama und Papa fügte, und jener, in der man die eigenen Kinder beschwichtigte und ihnen gehorchte, war nicht sonderlich groß. Er hatte gehofft, er könnte diesen seltenen freien Abend damit zubringen, neben Dora zu sitzen und sich eine DVD des Films Wenn die Gondeln Trauer tragen anzusehen. Stattdessen gönnte er sich das obligatorische Glas Rotwein und schlug Der erste Himmel auf.
Burdens Schwager war ein sehr guter Bekannter von ihm, auch wenn er nicht so weit gehen wollte, ihn als Freund zu bezeichnen, und Verleger, oder korrekter gesagt, Lektor in einem Verlag. Schon oft hatte sich Wexford überlegt, wie langweilig und lästig es für solche Leute sein musste, weil sie nicht aus freien Stücken Bücher lesen konnten, wie er es durfte, wenn er dazu Zeit hatte, sondern sich gezwungenermaßen immer nur mit den Manuskripten von Autoren beschäftigen mussten, deren Bücher sie veröffentlichten. Amyas, Burdens Schwager, hatte ihm gestanden, er hätte nur im Urlaub eine Chance, wieder einmal seinen Lieblingsautor zu lesen, Anthony Powell.
Dabei musste Wexford an Selina Hexhams Buch Spurlos verschwunden denken, das auch er sich nicht freiwillig als Lektüre ausgesucht hatte. Bei ihm war es also ebenfalls schon bald so weit. Er fing zu lesen an. Am Ende der ersten Seite fiel ihm noch ein Satz von Amyas ein: Ein erfahrener Lektor wisse bereits auf der ersten Seite, ob ein Roman etwas tauge oder nicht. Nun ja, er war kein Lektor, geschweige denn ein erfahrener, und er konnte das nicht erkennen. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er Fantasy nicht sonderlich mochte. Und dass es sich hier um Fantasy handelte, merkte man bereits auf der ersten halben Seite. Am Ende des ersten Kapitels zeigte Tredown deutlich seine Vorliebe für eine biblische Sprache, auch wenn es diesmal nicht um Figuren aus der Genesis und dem Buch der Könige ging. Es wimmelte nur so von »allhier« und »woher kommet«, und im zweiten Kapitel redeten sogar die Tiere
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