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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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fünf Uhr morgens, wenn man sein Make-up auflegen mußte, nicht auch noch Kinder herumschleppen konnte. Er hegte keinen Groll gegen Sissy. Bevor er ohnmächtig geworden war, hatte er kurz Sissy Spaceks Gesicht vor sich gesehen. Es war eine äußerst turbulente und seltsame Szene gewesen: Sie schien durch einen Kugelhagel, blutüberströmte Straßen und Berge von Leichen zu rennen.
    Er vertiefte sich wieder in sein Buch. Ja, der alte Sydney war okay, aber es hatte ihm mehr Spaß gemacht zu lesen, wie Louis diese eiserne Maske verpaßt bekam. Er schloß die Augen und versuchte, sich das Gefühl vorzustellen. Würde es jucken? Drüben in dem Papierkorb lag eine braune Tüte, deren Ränder zum Ausfüttern nach außen umgelegt waren. Er holte sie heraus, betrachtete sie kurz und bohrte dann mit seinem Bleistift drei Löcher hinein: zwei oben und ein etwas größeres weiter unten. Er stülpte sie sich über den Kopf und setzte sich. Natürlich mußte er sich vorstellen, daß sie wahnsinnig schwer und überall vernietet und verschweißt war. Sein Gesicht fing an zu jucken, aber er kratzte sich nicht, denn mit der richtigen Maske wäre das auch nicht möglich gewesen. Es mußte den armen Louis zum Wahnsinn getrieben haben; wenn man den Arm monatelang in der Schlinge hatte, fühlte sich das genauso an.
    Schließlich hielt er es nicht länger aus und kratzte sich doch. Er stellte den Dickens zurück und holte ein anderes Buch herunter: Die Freude am Kochen. Es sah aus, als wäre es hundert Jahre alt. James Carlton hatte keine Ahnung vom Kochen, da er aber nichts Besseres zu tun hatte, schaute er unter ‹Brathähnchen› nach. Erstaunlich, was man alles mit einem Hähnchen machen konnte. Er las die Rezepte durch die Löcher in der Tüte. Hähnchen mit Klößen, Hähnchen gebraten, gegrillt, Hähnchen mit unaussprechlichen Namen. Das von heute abend muß gebraten gewesen sein –
    Er ließ das Buch auf den Boden fallen und starrte vor sich hin, während er über das Hähnchen nachdachte … und dann über den Hamburger. Genau wie er ihn mochte …
    Er stürzte zum Schreibtisch, kletterte hoch und starrte in die Nacht hinaus. Es war noch nicht völlig dunkel; das Laub der Baumwipfel glänzte an manchen Stellen wie Lackleder im Licht des Mondes, der wie ein Silberdollar am Himmel hing. Er war so aufgeregt, so voller Panik, daß er nicht einmal bemerkte, daß er immer noch die Papiertüte trug. Er riß sie herunter und preßte sein Gesicht gegen die Stäbe. Er sah den Mond, der einen silbernen Streifen über das schwarze Wasser warf, dazu die Bäume und das Ufer; alles zusammen ergab die Umrisse des Bildes, das er vor ein paar Stunden im Detail gesehen hatte.
    James Carlton hatte ein fotografisches Gedächtnis, eine Fähigkeit, die Leute wie Harvey Schoenberg und auch seine Lehrer faszinierend fanden; andere jedoch, die es vorgezogen hätten, wenn bestimmte Dinge in Vergessenheit geraten wären, waren weniger davon angetan. Wie zum Beispiel Amelia Blue, die wußte, daß im Gedächtnis ihres Stiefsohns ein, zwei Zwischenfälle gespeichert waren, an die sie lieber nicht erinnert werden wollte.
    Er brauchte also gar kein Tageslicht, um zu erkennen, daß der Fluß da draußen fünfmal so breit war wie der Avon.
    Und er brauchte auch das Hähnchen nicht noch einmal zu probieren, um zu wissen, daß es einfach prima schmeckte.
    Ganz zu schweigen von dem Hamburger mit dem Klacks Senf, dem Ketchup und den zwei Gurkenscheiben.
    Er drehte sich langsam um und starrte auf die graue Katze. James Carlton, der sich immer sehr viel Mühe gegeben hatte, seinen Südstaatenakzent auszumerzen, und der Pennys ‹Scheiß drauf› und dergleichen Ausdrücke, die eine niedrige Herkunft verrieten, nach Möglichkeit vermied, sagte jetzt: «Gottchen, Katze. Wir sitzen in der Scheiße – das is nich Stratford!»
    Die Katze warf ihm nur einen kurzen Blick zu, streckte sich und träumte weiter von Mäusen und Jell-O.
    Er hatte es von Anfang an gewußt.

18
    «London? Was soll das heißen, London?» fragte Agatha Ardry und nahm sich noch einen Toast von Melroses Toastständer. Nein, Frühstück wollte sie nicht; sie habe schon mit den Randolph Biggets gefrühstückt. Also stand zu vermuten, daß sie ihm einfach nur seines wegessen wollte. Das dritte Stück Toast bestrich sie nun schon mit Orangenmarmelade. Sie wiederholte ihre Frage: «Warum willst du denn bloß nach London?»
    «Um die Queen zu sehen», sagte er und trug in sein Kreuzworträtsel eine Lösung

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