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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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zurück, suchte sich aus dem Katalog eine Signatur heraus und trat damit an ein anderes Regal, von dem er sich ein weiteres Buch holte.
    Er schmökerte eine Stunde lang darin herum. Dann schlug er auch dieses Buch zu und trommelte mit den Fingern auf den Deckel, während er darüber nachdachte.
    Vielleicht nebensächlich, dachte Melrose stirnrunzelnd, aber doch sehr merkwürdig.

19
    Als Jenny Kennington die Tür des schmalen kleinen Häuschens in der Ryland Street in Stratfords Altstadt öffnete, zuckte Jury ein wenig zusammen, nicht, weil sie sich verändert hatte, sondern weil sie sich kein bißchen verändert hatte. Sie trug das Haar auf dieselbe Art, die hellbraunen Locken lässig nach hinten gekämmt und im Nacken von einem kleinen Tuch zusammengehalten. Der Rock war vielleicht ein anderer – gute Wolle sieht immer gleich aus –, aber der Pullover war bestimmt derselbe. Er erinnerte sich, wie sein silbriger Faden die letzten Sonnenstrahlen eingefangen hatte, als sie in dem großen, leeren Speisesaal in Stonington standen.
    «Superintendent Jury!» Ihr Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war, als wüßte sie nicht genau, woran sie mit ihm war. Doch als sie nach der ersten Überraschung zur Seite trat, um ihn hereinzulassen, schien sie sich eines Geheimnisses bewußt, von dem keiner von ihnen ahnte, daß sie es teilten.
    Jury bot sich ein vertrautes Bild: Der Raum – eine Art Salon – stand voller Umzugskartons, einige waren fertig gepackt und verschnürt, andere halb voll oder noch leer. Er wußte, was das zu bedeuten hatte – sie war nicht dabei einzuziehen.
    Sie folgte seinem Blick und hob hilflos die Arme. Betrübt sagte sie: «Ich scheine nie in der Lage zu sein, Ihnen einen Stuhl anbieten zu können. Außer dem Bett und einigen anderen Sachen habe ich die Möbel alle verkauft. Es schien mir nicht sinnvoll, all die sperrigen Stücke mitzunehmen …»
    «Ich brauche keinen Stuhl. Hält das Ding hier mein Gewicht aus?» Er zeigte auf einen der verschnürten Umzugskartons.
    «Natürlich.»
    Vorsichtig setzte er sich auf die Kante des Kartons.
    Sie nahm auf einem anderen ihm gegenüber Platz. «Haben Sie eine Zigarette?»
    «Ja.» Er hielt ihr die Packung hin. Es war nur noch eine darin. Als er sie danach greifen und dann zögern sah, sagte er: «Bedienen Sie sich. Ich versuche sowieso, weniger zu rauchen.» Er hätte sein ganzes Monatsgehalt für eine Zigarette und eine Flasche Whisky gegeben, um dies durchzustehen. Sie zögerte immer noch. «Bitte», drängte er sie.
    «Wir teilen sie uns.»
    «Okay», sagte er lächelnd und gab ihr Feuer. «Wohin soll’s denn gehen?»
    «Ich habe eine alte, ziemlich kranke Tante. Sie möchte eine Kreuzfahrt machen und braucht eine Begleitung. Ich bin ihre einzige Verwandte und umgekehrt. Alle anderen sind tot.» Sie blies den Rauch ihrer Zigarette aus und reichte sie Jury. «Es ist komisch. Andere Leute scheinen immer mehr dazuzukriegen – ich meine Ehemänner, Kinder, Enkelkinder –, nur bei mir wird es immer weniger.»
    In ihren Worten klang kein Selbstmitleid mit. Der unbeteiligte Ton verlieh ihnen jedoch eine um so eindringlichere Wirkung.
    Jury zog einmal an ihrer Zigarette, ihren Mund wie eine Erinnerung kostend, und gab sie ihr zurück. «Das muß ja nicht so sein.»
    Sie schien auf einen Punkt in der Luft über seiner Schulter zu starren. «Das frage ich mich.» Ihre Blicke trafen sich.
    Er entrang sich ein Lächeln. «Wenn Sie lediglich auf Reisen gehen –» Er sah sich im Zimmer um. «Warum dann das hier?»
    «Ich fürchte, es wird eine lange Reise werden.»
    Die Zigarette, die sie ihm zurückgegeben hatte, war beinahe abgebrannt. Er zog nicht daran, denn er fürchtete sich vor dem Augenblick, in dem sie ausgehen würde. «Aber wenn Sie zurückkommen … ich meine, Sie müssen sich doch irgendwo niederlassen. Wissen Sie nicht, wo?»
    Sie schüttelte den Kopf und sagte: «Eigentlich nicht. Es könnte sein, daß ich eine Weile bei Tante Jane wohnen werde. Obwohl ich nicht glaube, daß sie, so wie sie aussieht, noch lange leben wird –»
    «Sie müssen das doch nicht tun», sagte er plötzlich.
    «Wenn Sie nur etwas früher gekommen wären», sagte sie.
    Jury sah zu, wie der kleine weiße Zylinder der Zigarette sich in Asche verwandelte, und erinnerte sich an die letzte Begegnung mit ihr. Staub und Asche schienen zwischen ihnen zu stehen. Er fragte sich, ob er allmählich fatalistisch wurde. «Sie können nicht Ihr ganzes Leben lang ziellos

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