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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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ein.
    «Und mich läßt du hier hocken.» Von keinerlei moralischen Zweifeln angenagt, winkte sie den Kellner heran und bestellte Toast nach.
    «Einsam und verlassen wie Robinson Crusoe; allerdings hatte der nur seinen Freitag, während du den ganzen Bigget-Clan um dich herum hast.»
    «Mein lieber Plant, ich habe dir bislang trotz deiner Fehler immer zugute gehalten, daß du als Gentleman zumindest weißt, was sich gehört. Aber ich sehe –» Ihre Tirade über den Verlust von Melroses letzter Tugend wurde vom Kellner unterbrochen, der den Toastständer auffüllte. «Jury führt wieder was im Schilde, oder? Darum fährst du nach London.»
    Melrose sah von seinem Kreuzworträtsel auf. «Etwas im Schilde? Jury ist, falls du dich erinnerst, Superintendent beim New Scotland Yard. Ich würde die Ermittlungen in einem weiteren schauerlichen Mordfall auf den Straßen dieser sonst so friedlichen Stadt nicht so bezeichnen.»
    «Was, es gab noch einen? Einen weiteren Mord?» Der Toast mit dem kleinen Berg Quittenmarmelade verharrte auf halbem Weg in der Luft.
    «Das weißt du noch nicht? Da bist du die einzige in ganz Stratford. Gestern abend. Eine junge Amerikanerin, die mit einer Reisegesellschaft unterwegs war. Kehle aufgeschlitzt – von einem Ohr zum anderen.» Es bereitete ihm ein perverses Vergnügen, ihr das zu erzählen.
    Agatha erschauerte. «Du bist wirklich blutrünstig, Plant –»
    «Ich? Ich habe die junge Dame doch nicht umgebracht.»
    «Amerikanerin? Eine Amerikanerin, sagst du?» Ihre Augen traten hervor. «War denn diese andere Person nicht auch Amerikanerin?»
    «So wie du. Und die Biggets.»
    Der Löffel, mit dem sie ihren dritten Tee umgerührt hatte, fiel klirrend auf die Untertasse. «Allmächtiger! Willst du damit sagen, der Betreffende hat es auf Amerikaner abgesehen?»
    «Wahrscheinlich ein später Unabhängigkeitskriegsfanatiker.»
    «Wen hat er umgebracht und warum?»
    «Ich hab’s dir doch gesagt, eine junge Amerikanerin, eine Touristin. Die Polizei wird auch noch nicht wissen warum.»
    Sie senkte die Stimme. «Ein Sexualverbrechen, nicht?»
    «Keine Ahnung.» Melrose beendete sein Kreuzworträtsel in der Überzeugung, einen neuen Weltrekord aufgestellt zu haben: weniger als fünfzehn Minuten und gleichzeitig Agatha am Hals. Er schickte sich an zu gehen und gab ihr die Zeitung. «Da kannst du es nachlesen.»
    «Wohin gehst du?»
    «Ich sagte es bereits. Nach London.»
    «Also soviel steht fest, die Biggets und ich werden keine Sekunde länger in Stratford bleiben», sagte sie entschlossen, während sie ihre Serviette ablegte.
    Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er sie. «Und wohin fahrt ihr?»
    «Nach Long Piddleton, nehme ich an.»
    Melrose beugte sich über den Tisch und sagte ausdruckslos: «Wenn ich nach Ardry End zurückkomme und auch nur einen Bigget vorfinde, werde ich ihn oder sie persönlich an die Ufer des Piddle begleiten.»
    «Also wirklich! Es ist eine Schande, daß du nichts von der Gastfreundlichkeit deiner lieben, toten Eltern geerbt hast. Deine liebe Mutter, Lady Marjorie, Countess von Caverness –»
    Gepeinigt schloß er die Augen. «Warum mußt du meine Eltern jedesmal, wenn du von ihnen sprichst, ankündigen wie ein Butler die Gäste eines Balls?» Er stand auf und sah auf sie herunter. «Also vergiß nicht: Ein Bigget –» und er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle.
    Ziemlich schauerliche Geste in Anbetracht der Umstände, dachte er.
     
    Um Viertel vor zehn befand sich an diesem Morgen in Stratfords Bibliothek neben Melrose nur noch ein Leser – ein alter, tattriger Mann, der langsam in einer Zeitschrift blätterte und rhythmisch dabei hustete. Abgesehen von dem Husten herrschte Grabesstille, während Melrose sich seine Notizen machte, ein Buch mit elisabethanischen Gedichten aufgeschlagen vor sich.
    Da es in der Bibliothek kein Kopiergerät gab, schrieb er das Gedicht mühsam ab. Es hatte zahlreiche Strophen. Wahrscheinlich hätte er das Buch auch ausleihen können, aber da er nicht in Stratford wohnte, hätte sein Begehren eine endlose bürokratische Maschinerie in Gang gesetzt.
    Er schraubte die Kappe seines Füllfederhalters zu, las das Gedicht noch einmal durch und schlug das Buch zu. Nur das Ticken der Standuhr, das Rascheln der Zeitschrift und das gelegentliche Klappern der Absätze der Bibliothekarin waren zu hören, als er die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden noch einmal Revue passieren ließ. Dann stand er auf, stellte den Gedichtband

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