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Inspektor Jury küsst die Muse

Inspektor Jury küsst die Muse

Titel: Inspektor Jury küsst die Muse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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umherirren.»
    «Wir – ich meine, meine Familie – haben früher hier gelebt. Nicht in Stratford. Etwas außerhalb. Das Haus war viel zu groß für mich, um einfach dorthin zurückzukehren. Und jetzt ist es ganz heruntergekommen; die Seitenflügel sind nur noch Schutt; das Pförtnerhaus ist ein Steinhaufen –»
    Es war, als knüpfte sie an eine Unterhaltung an, die nicht vor Monaten, sondern vor wenigen Minuten stattgefunden hatte.
    «… Als ich dorthin fuhr, wurde mir klar, daß man die Vergangenheit nicht zurückholen kann.»
    «‹Natürlich kann man.›» Er verbrannte sich die Finger an der Zigarette und mußte sie auf den Fußboden fallen lassen. Sie trat sie aus.
    Als er wieder aufsah, lächelte sie freudlos. «Das habe ich noch nie gehört. Glauben Sie das wirklich?»
    «Gatsby hat das gesagt. Sie wissen schon. Fitzgeralds Gatsby. Über Daisy.»
    Sie ließ den Blick durch das ganze Zimmer schweifen, nur ihn sah sie nicht an. «Daisy. Aha.»
    Jury stand auf. «Ich muß gehen. Ich fahre in einer knappen Stunde nach London zurück. Hören Sie, Sie werden doch noch ein paar Tage hierbleiben? Könnten Sie mich nicht anrufen, bevor Sie aufbrechen?» Er gab ihr seine Visitenkarte und schrieb seine Privatnummer auf die Rückseite.
    «Ich werde vermutlich noch eine Woche hiersein.» Sie sah auf die Karte in ihrer Hand. «Gut, ich werde anrufen.»
    An der Tür sagte sie traurig: «Aber bei ihm hat es nicht geklappt, oder? Ich meine Gatsby.»
    Jury lächelte. «Das kommt wahrscheinlich auf den Standpunkt an.»
    Als er die Ryland Street zurückging, fiel ihm auf, daß sie kein einziges Mal über Mord gesprochen hatten.

20
    Nachdem Melrose Agatha zum Frühstück genossen hatte, stand ihm nun Harvey Schoenbergs Gesellschaft bevor. Als er die «Ente» betrat, saß Harvey schon da, den Arm um seinen Computer gelegt, und trank Bier.
    «Hallo, Mel!» rief er über das Stimmengewirr einer merklich geschrumpften Menge von Gästen. Nach den Enthüllungen der letzten beiden Tage mußten die Touristen panikartig die Flucht ergriffen haben.
    «Guten Morgen», sagte Melrose und legte seinen Spazierstock auf den Tisch. «Ich nahm an, Honeysuckle Tours sei bereits nach London unterwegs.»
    «Die Verzögerung haben wir J.C. zu verdanken Sie wissen schon, Farraday. Ihr Freund Rick versucht, ihn zum Fahren zu überreden. Aber er meint, er rührt sich nicht von der Stelle –»
    «Rick?»
    «Ja. Der Typ von Scotland Yard.» Harvey hob sein Glas. «Wollen Sie ein Bier?»
    «Lieber einen Sherry. Tio Pepe, trocken.»
    «Tio. Klar. Passen Sie bitte auf das Ding auf, okay?» Er wies mit einem Kopfnicken auf den Ishi.
    «Ich werde ihn nicht aus den Augen lassen.»
    Während Harvey zur Bar ging, zog Melrose den gefalteten Papierbogen aus seiner Tasche. Er las sich das Ganze noch einmal durch, besonders die Strophe, die der Mörder für seine makabren Zwecke verwendet hatte.
    Wenige Minuten später kam Harvey zurück, stellte den Sherry auf den Tisch und nahm den Faden der Unterhaltung wieder auf, als hätte es die Unterbrechung nicht gegeben. «Ich meine, Sie können dem armen Kerl auch keinen Vorwurf machen, denn Jimmy ist noch immer nicht aufgetaucht.» Er senkte die Stimme. «Sie glauben doch nicht, daß dem Jungen was zugestoßen ist, oder?» Als ihm Melrose nicht sofort antwortete, stieß er ihn in die Seite. «Sie wissen schon, was ich meine.»
    «Ich weiß. Aber es würde nicht recht ins Schema passen, oder?»
    «Schema? Welches Schema?»
    «Beide Opfer waren Frauen. Sie kannten den kleinen Jungen ziemlich gut, nicht wahr? Sie waren doch derjenige in der Gruppe, mit dem er am häufigsten gesprochen hat.»
    «Kann schon sein. Über Computer. Ich bin selten jemandem mit einer so schnellen Auffassungsgabe begegnet. Ich habe versucht, ihm die Zukunftsperspektiven klarzumachen, ich meine in beruflicher Hinsicht. Der Kleine hat was auf dem Kasten. Also, ich muß gleich wieder los.» Er leerte sein Glas, stand auf und schlang sich den Riemen der Kiste über die Schulter. «Mann, ich kann’s kaum abwarten, in London zu sein. Können Sie sich das vorstellen? Nach Deptford gehe ich als erstes. Dann Southwark und vielleicht Greenwich. Hören Sie, ich sollte Sie eigentlich herumführen.» Er zeigte auf seine Jackentasche. «Die Stadtteile auf der anderen Seite der Themse kenne ich wie meine Westentasche, wenigstens so, wie sie einmal ausgesehen haben. Kommt von den vielen Plänen, die ich studiert habe. Heute wird es da vermutlich anders

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