Inspektor Jury laesst die Puppen tanzen
Sie damit sagen?«
Jury sah, wie Brunners Augen sich von dunklem Bernstein zur Farbe von schwachem Tee verwandelten.
»Mein Gott! Glauben Sie etwa, ich hätte Josef erschossen? Glauben Sie, ich war es?«
Jury war von dieser Antwort völlig überrascht. »Nein, nein. Wo denken Sie hin? Sie waren doch noch ein Kind. Wieso sollte ich das glauben?«
»Weil Sie anscheinend darauf anspielen, dass an Josefs Ermordung etwas so furchtbar war, dass ich mich daran erinnern muss.«
»Andere Begleitumstände könnten dieselbe Wirkung haben.«
»Was?«
»Zum Beispiel zu sehen, wie er direkt vor Ihren Augen erschossen wurde.«
Kurt Brunner sank in seinen Sessel zurück, als wäre er selbst von einem Schuss getroffen worden. »Das hätte gar nicht sein können.«
»Doch.«
»Ich erinnere mich nicht daran.«
Jury überlegte einen Augenblick, während er ihn nachdenklich musterte. »Ich gebe zu, möglicherweise waren Sie dermaßen traumatisiert, dass Sie es aus Ihrem Bewusstsein verdrängten. Das ist möglich. Und Sie waren natürlich noch sehr jung.«
»Es war, wie ich es sagte. Bloß was hat das jetzt mit Billys Ermordung zu tun?«
»Eine ganze Menge.« Jury schaute auf die Uhr. »Ich habe einen Bärenhunger. Gehen wir irgendwo was essen? Es muss hier doch ein anständiges Pub geben.«
»Ein anständiges Pub gibt es immer.« Brunner erhob sich lächelnd, und sie gingen.
37
Sie standen erst an der Theke, bis sie davon genug hatten, nahmen dann ihre Drinks und ließen sich an einem Tisch nieder, wo mittlerweile die Reste von zwei Käse-Gurken-Sandwiches vor ihnen lagen.
»Ich bin Billy vor sechs Jahren in München begegnet«, sagte Kurt. »Ich unterrichtete damals an einer von diesen internationalen Schulen – Geschichte, mein Spezialfach, und Russisch. Das machte ich damals seit zehn Jahren und wurde immer unzufriedener.« Mit einer Hand wischte er die Wasserflecken vom Tisch. »Ich traf Billy in einer Bar am Goetheplatz. Wir wechselten ein paar Worte über die Stadt, und Billy sagte, er hätte sich gerade die langweiligste Ausstellung aller Zeiten in einer angesagten Galerie angesehen. Irgendein Künstler namens Rio Bravura. Der Name gefiele mir, meinte ich, und ob das nicht der Titel eines amerikanischen Western mit Dean Martin oder John Wayne sei? Nein, antwortete er mir, der heiße Rio Bravo, und wahrscheinlich habe der Künstler Bravura den Film mehrmals gesehen. Er sehe zwar nicht aus wie Dean Martin, würde aber genauso viel trinken wie der, so viel sei sicher.
Dann redete Billy über die Bilder und den Maler, natürlich ein unerträglicher Kerl. Eine wahnsinnige Schimpfkanonade ließ er los, doch ich fand ihn wirklich einen großartigen Gesprächspartner. Wir sprachen über griechische Dramen und so weiter und blieben, bis sie den Laden dichtmachten. Danach suchten wir ein Lokal, das noch geöffnet hatte. Ich schwöre bei Gott – Billy hörte überhaupt nicht mehr auf zu reden. Er war unheimlich intelligent. Er war manisch.« Kurt lachte kurz auf.
»Als ich ihm sagte, ich wollte mir einen anderen Job suchen, bat er mich, doch für ihn zu arbeiten. Und da bin ich nun. Er bräuchte jemanden, der für ihn das Geschäftliche regelte, sagte er.«
Jury sah zu, wie die Zigarette in dem blechernen Aschenbecher glomm und langsam zu Asche herunterbrannte. Fast hätte er sie sich herausgenommen. Obwohl es inzwischen fast drei Jahre her war, dass er nicht mehr rauchte, war ihm immer noch so zumute. Er hörte Brunner natürlich reden, doch sein Blick ruhte auf diesem Aschenstreifen. Was war es, fragte er sich, was war in dieser Asche verborgen?
»Das ist also meine Aufgabe: das Geschäftliche zu regeln.« Kurt bemerkte die Asche an der Zigarettenspitze und schnippte sie in den Becher. Er sah Jury an. »Sie waren mal Raucher.«
Jury lehnte sich zurück. »Ja, früher. Vor drei Jahren habe ich aufgehört, und mich gelüstet immer noch danach.«
Kurt zuckte die Achseln und meinte nüchtern: »Vielleicht sind es gar nicht die Zigaretten, nach denen es Sie gelüstet. Es gibt Dinge, über die kommt man nie hinweg. Das können Leute, die nie abhängig waren, gar nicht verstehen. Zuerst fühlt man sich gerettet, dann stellt sich heraus, dass es eben nicht so ist. Man ist immer noch verloren. Wäre es dann nicht besser, man hätte sich gar nicht erst so gefühlt? Ich glaube, das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie viel uns manche Dinge bedeuten: Zigaretten, Alkohol, Liebe …?«
Er zündete sich noch eine Zigarette an
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