Inspektor Jury schläft außer Haus
Rohr war unter das Hemd des Opfers geschoben worden. Um seinen Leib war ein Seil geschlungen, und darüber hatte man ihm das Jackett zugeknöpft. Auf seinen Schultern lagen noch nicht geschmolzene Schneeklumpen. Eine Leiche, die an einem für alle sichtbaren Ort versteckt worden war, dem besten Versteck überhaupt – unter den Füßen oder über dem Kopf. Da das Opfer nicht sehr groß war, etwa 1,70 m, konnte es ohne Schwierigkeit den Platz der geschnitzten Figur einnehmen. Schwer zu sagen, wann jemand hochgeschaut hätte; außerdem sahen die Leute sowieso nur das, was sie zu sehen erwarteten.
Aber wozu das Ganze? Welchen Zweck erfüllte dieses ausgeklügelte Arrangement?
Er sammelte die Fotos wieder ein, öffnete die flache Schreibtischschublade und ließ den Schnellhefter neben eine kleine, gerahmte Fotografie gleiten, die mit der Bildseite nach unten in der Schublade lag. Jury hatte sie von seinem Schreibtisch genommen, konnte sich aber nicht entschließen, sie wegzuwerfen. Als er noch jünger war, hatte Jury kaum je ans Heiraten gedacht; inzwischen dachte er häufiger daran. In den 40 Jahren seines Lebens war ihm nur selten einmal eine außergewöhnliche Frau über den Weg gelaufen. Maggie war eine der wenigen gewesen.
Jury legte die Fotografie wieder mit der Bildseite nach unten in die Schublade zurück und wollte gerade mit einem kleinen Schlüssel wieder abschließen, als er ein Klopfen an der Tür hörte.
«Inspektor Jury», sagte die Frau, die nervös die Finger ineinander verflocht, als er ihr die Tür öffnete. «Er ist wieder da. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Warum läßt er mich nicht in Ruhe?»
«Ich bin gerade eben nach Hause gekommen, Mrs. Wassermann.»
«Ich weiß, ich weiß, es tut mir auch leid, Sie damit zu belästigen. Aber …» Sie breitete hilflos die Hände aus. Sie war eine ziemlich korpulente Frau, die ein schwarzes Kleid mit einer Filigranbrosche am Ausschnitt trug. Ihr Haar war straff nach hinten gekämmt und in einen Knoten zusammengefaßt, der wie eine aufgerollte Spiralfeder aussah. Ihr ständiges Händeringen und die nervöse Bewegung, mit der sie den Ärmel ihres Kleides hochschob, ließen die ganze Frau wie eine festaufgerollte Spirale erscheinen.
«Ich komme mit runter», sagte Jury.
«Es sind dieselben Schuhe, Inspektor. An den Schuhen erkenne ich ihn immer wieder. Was will er nur von mir? … Warum läßt er mich nicht endlich in Ruhe? … Denken Sie, dieses Gitter ist stark genug …? Warum kommt er immer wieder zurück …?» Im Kielwasser ihrer Fragen stieg er die Treppe zu ihrer Wohnung hinunter.
«Ich schaue mal nach.»
«Ja, bitte.» Sie nahm die Hände vors Gesicht, als könnte Jurys kurzer Blick aus dem kleinen, zur Straße gehenden Fenster für sie beide sehr gefährlich werden. Das Fenster lag gegenüber von der Tür auf einer Höhe mit der letzten Stufe und dem Bürgersteig. «Es ist niemand da, Mrs. Wassermann.» Jury war das von vornherein klargewesen.
Diese Szene spielte sich ungefähr alle zwei Monate ab. Zuerst hatte Jury versucht, sie ganz einfach von der Wahrheit zu überzeugen: Es war niemand da. Mrs. Wassermann verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit damit, die Füße auf dem Bürgersteig zu beobachten, Füße und Beine ohne Körper, die an ihrem Fenster vorbeigingen. Ein Paar Füße, ein Paar Schuhe hatten ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie behauptete, sie kämen immer wieder zurück, um sie zum Wahnsinn zu treiben: Füße, die stehenblieben. Warteten. Sie lebte in ständiger Angst vor diesen Füßen.
Jury hatte immer wieder versucht, sie davon zu überzeugen, daß es die Füße nicht gab und daß es ihn auch nicht gab; schließlich begriff er aber, daß er sie dadurch nur noch mehr verunsicherte. Sie mußte daran glauben. Jury hatte ihr also das ganze letzte Jahr über geholfen, ihre Wohnung in eine uneinnehmbare Festung zu verwandeln: stärkere Gitter, Schlösser, Ketten, Alarmanlagen. Trotzdem tauchte sie unweigerlich immer wieder bei ihm auf. Und er installierte immer etwas Neues – noch ein Schloß oder noch eine Alarmanlage –, und sie war jedesmal unendlich erleichtert. Er versicherte ihr, daß es einfacher sei, New Scotland Yard zu plündern, als in die Wassermannsche Wohnung einzudringen, und sie fand das sehr komisch. Inzwischen fiel ihm aber auch nichts Neues mehr ein.
Er schaute aus dem Fenster, sah nichts und prüfte der Form halber noch einmal das Gitter. Angstvoll beobachtete sie ihn. Er wußte, daß sie den Glauben
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