Inspektor Jury schläft außer Haus
verlieren würde, wenn er zu lange zögerte. Er griff in seine Tasche und zog ein winziges, rundes Stück Metall hervor, das er triumphierend hochhielt. «Mrs. Wassermann, eigentlich dürfte ich das gar nicht tun, es ist nämlich nicht legal –» er grinste, und sie grinste verschwörerisch zurück – «aber ich bringe das an Ihrem Telefon an.» Er hob das Telefon hoch und befestigte die Scheibe an der Unterseite. «Da. Sollte jemals einer hier reinkommen, dann nehmen Sie einfach den Hörer ab und schieben die Metallplatte zur Seite. Es klingelt dann bei mir.» Ihr Gesicht strahlte. «Aber hören Sie, nur wenn’s nicht anders geht – in einem Notfall –, es klingelt nämlich in der Zentrale, und das könnte sehr unangenehm für mich werden.»
Erleichterung breitete sich auf ihrem Gesicht aus – ein rührender Anblick. Er wußte, sie würde keinen Gebrauch davon machen, sie wollte nur beruhigt werden, und die nächsten zwei Monate würde sie ihn auch nicht damit belästigen. Dann hätte sich jedoch wieder so viel Angst in ihrem Innern angestaut, daß sie die Füße wieder sehen würde. Es war beinahe wie eine sexuelle Perversion oder eine Sucht. Und es gab so wenig Dinge, die sie von ihrer fixen Idee ablenkten. Er dachte oft über die Leere ihres Lebens nach. Und manchmal blickte er in ihre dunklen, kleinen Augen und entdeckte sein eigenes Spiegelbild darin.
«Oh, Inspektor Jury, was würde ich bloß ohne Sie tun? Es ist so beruhigend zu wissen, daß Sie hier wohnen, ein Kriminaler vom Scotland Yard.» Sie lief zu dem Kamin hinüber, in dem ein elektrisches Holzscheit brannte, und nahm ein Päckchen von dem weißen Gipssims. Sie hielt es ihm hin. «Zu Weihnachten. Kommen Sie, machen Sie es auf.» Sie machte eine auffordernde Bewegung mit den Händen.
«Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Vielen Dank.» Er knotete das Band auf und entfernte das dünne Papier. Es war ein Buch. Und ein sehr schönes, in Leder gebunden, mit Goldschnitt und einem Lesezeichen aus schwarzer Seide. Virgils Aeneis.
«Ich hab Sie es mal in der U-Bahn lesen sehen, erinnern Sie sich? Ich weiß, daß Sie gern lesen. Für mich ist das zu hoch. Böhmische Dörfer.» (Jury lächelte.) «Ich lese Filmmagazine, Liebesromane und ähnlichen Schund. Gefällt es Ihnen?» Es schien ihr viel daran gelegen zu sein, daß sie das richtige Buch ausgesucht hatte.
«Ein wunderschönes Buch, Mrs. Wassermann. Wirklich. Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest. Sind Sie jetzt beruhigt?»
Arme Frau, dachte Jury, als er mit seinem Buch die Treppe hochstieg. Von welchem Blickwinkel aus hatte sie den Mann gesehen, ihn, dessen Füße sie immer noch terrorisierten? Vom Boden? Von einer Matte? Von einem Bett? Hatte sie auf seine Füße geschaut, um ihm nicht ins Gesicht blicken zu müssen? Es war wohl besser für Mrs. Wassermann, daß die Füße vor ihrem vergitterten Fenster haltmachten und nicht die Türen der Erinnerung eintraten.
V
In englischen Gasthöfen werden wohl immer die Wege der Geschichte, der Erinnerung und der Romanzen zusammenlaufen. Wer hat sich in seiner Phantasie noch nicht über ihre Holzgalerien gebeugt und auf den mit Kopfsteinen gepflasterten Hof hinuntergeblickt, um zu beobachten, wie die Kutschen einfahren und der dampfende Atem der Pferde die Luft erfüllt, wenn sie an einem kalten Winterabend stampfend vor den Ställen stehen? Und wer kennt nicht die Beschreibungen dieser langgestreckten, flachen Gebäude mit den unterteilten Fenstern, den eingesunkenen, unebenen Fußböden, den dicken Holzbalken und dem Kupfergeschirr an den Wänden, den Küchen, in denen ganze Tiere sich einst auf Spießen drehten und in denen die Schinken von der Decke hingen? Die weniger betuchten Reisenden saßen auf den Hockern um den Kamin und tranken ihr Ale. Und eine geschäftige Wirtin trieb die Hausmädchen an, daß sie wie aufgescheuchte Hühner davonstoben. Es gab ganze Bataillone von Zimmermädchen, beladen mit Bettwäsche, die nach Lavendel duftete, von Küchenjungen, Bediensteten, Zapfern, Kutschern und Burschen, die darauf warteten, den Reisenden bis zu den schweren Eichentüren oder wieder zurück zur Kutsche bringen zu können. Häufig wußte der Gast nicht, was ihn erwartete, ob der Boden mit Heu bedeckt war oder über welche Körper er auf seinem Weg zum Frühstück steigen oder kriechen mußte, wenn er in einem der inneren Räume genächtigt hatte. Aber das Frühstück entschädigte ihn dann reichlich für die in der Nacht erlittenen
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