Inspektor Jury spielt Domino
Hustenbonbons aufzureißen, ließ aber nach einem Blick auf Harkins davon ab und lutschte weiter auf dem Bonbon herum, das sich noch in seinem Mund befand. Jury brach das Schweigen, was ihm einen finsteren Blick von Harkins eintrug. «Colonel Crael, wir wissen inzwischen, daß Gemma Temple nicht Ihr Mündel Dillys war. Ihre ganze Geschichte war eine Lüge. Sie kam hierher in der Absicht, sich die Erbschaft unter den Nagel zu reißen.»
Harkins warf Jury einen vernichtenden Blick zu, weil er Informationen preisgegeben hatte. Jury konnte ihm das nicht übelnehmen; trotzdem war er der Meinung, der Colonel habe ein Recht, es zu erfahren.
Der Colonel schloß kurz die Augen. Dann sagte er: «Also gut. Dennoch verstehe ich nicht ganz, woher sie soviel über Dillys und über uns wissen konnte.»
«Sie war genauestens informiert worden.» Jury brachte es beinahe nicht heraus: «Von Olive Manning.»
Das Gesicht des Colonels schien um Jahre zu altern.
«Von Olive? Olive?»
«Ich fürchte, ja. Sie ist nicht über die Tatsache hinweggekommen, daß Dillys March ihren Sohn in den Wahnsinn getrieben hat, zumindest nahm sie das an. Sie tat es aus Rache – und Geldgier. Olive Manning war also gefährlich für jemanden … Sie wußte, wer Gemma Temple ermordet hatte.» In Harkins’ Stimme lag die Autorität eines Deus ex machina, der auf die Bühne herabgestiegen ist, um das traurige Durcheinander, das die Schauspieler verursacht haben, wieder in Ordnung zu bringen.
«Vielleicht», sagte Jury. «Vielleicht war es aber auch etwas anderes …» Er dachte an die Anschläge auf Lily Siddons. Da er aber über Lily und über den Zusammenhang, den er zwischen ihr und der Familie Crael vermutete, keine kühnen Behauptungen aufstellen wollte, unterbrach er sich. «Die Reise, die Ihre Frau und Ihr Sohn vorhatten, war sie nicht ein wenig plötzlich?»
«Das ist so lange her …»
«Kann es sein, daß Lady Margaret ihren Sohn von jemandem trennen wollte? Von einer Frau?»
«Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.»
Auch Harkins verstand es nicht. Er saß da und sah höchst unglücklich aus über den Verlauf, den das Verhör genommen hatte.
«Ich meine Mary Siddons.»
Sein Erstaunen war nicht geheuchelt.
Wenn es eine Beziehung zwischen Rolfe und Mary gegeben hatte, der Colonel hatte nichts davon gewußt. Lady Margaret hingegen war bestens informiert gewesen, das hätte Jury schwören können. «Sie war ein hübsches, liebenswertes Mädchen, Mary Siddons, oder?» Der Colonel schwieg. «War es nicht möglich, daß die beiden ein Verhältnis hatten?» Der Ausdruck im Gesicht des alten Mannes verriet Jury, daß es nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich war.
«Mein Gott.» Der Colonel holte tief Luft. «Margaret wollte das Mädchen rausschmeißen. Das war kurz bevor sie und Rolfe abfuhren. Ich habe mich immer gefragt, warum. Daß Mary etwas gestohlen haben sollte, daran habe ich nie geglaubt. Nun, ich wollte sie nicht gehen lassen, ich wollte es einfach nicht, und in dem Punkt habe ich mich durchgesetzt, aber –»
Aber auch nur in diesem, dachte Jury. «Sie hatten keine Ahnung von dieser Verbindung?»
«Chefinspektor, ich denke, es wäre vielleicht besser, wenn wir uns wieder den gegenwärtigen Problemen zuwenden würden.» Harkins war frustriert.
«Das sind indirekt die gegenwärtigen Probleme», sagte Jury. «Wäre es möglich, Colonel Crael, daß Olive Manning von der Beziehung zwischen Rolfe und Mary etwas gewußt hat?»
«Olive? Ja, das ist gut möglich. Margaret stand sie jedenfalls sehr nahe.»
«Wie alt war Lily damals?» Er bemühte sich, der Frage einen so beiläufigen Ton wie nur möglich zu geben.
«Oh, ich weiß nicht. Sie muß zehn oder zwölf Jahre gewesen sein.»
Mary Siddons hatte all die Jahre geschwiegen. Man hatte ihr entweder Geld angeboten oder sie eingeschüchtert; einen Mann für sie gefunden, und Rolfe war zu schwach oder zu desinteressiert gewesen, um seiner Mutter zu widersprechen. Mary Siddons mußte aber ein letztes Mal versucht haben, ihn an sich zu binden, und dabei kläglich gescheitert sein. Rolfe wurde von seiner Mutter abgeschleppt. Jury wußte nicht genau, ob es Ian Harkins’ Gegenwart oder einfach seine Intuition war, die ihn davon abhielt, all das laut auszusprechen. Er tat es jedenfalls nicht.
«Was geschieht jetzt?» fragte der Colonel.
«Es wird neu ermittelt. Ihr Sohn geht nicht auf die Jagd, oder?»
Die Art und Weise, wie Harkins die Frage herausschleuderte,
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