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Inspektor Jury spielt Domino

Inspektor Jury spielt Domino

Titel: Inspektor Jury spielt Domino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Gesicht strahlte, als sie es öffnete und die Trillerpfeife hochhielt.
    «Eine Trillerpfeife für Polizisten», sagte Jury. «Ich dachte, vielleicht würden Sie sich mit diesem Ding um den Hals etwas sicherer fühlen, wenn Sie zum Markt oder zur Camden Passage gehen. Ein Pfiff, und jeder Polizist im Umkreis von einer Meile wird die Islington High Street zu Ihnen heruntergerast kommen.» Das war natürlich maßlos übertrieben, aber er wußte, daß sich die Gelegenheit dazu nie bieten würde. Es war ein altes Ding, das er in einem der Trödelläden bei der Passage entdeckt hatte.
    Jury hatte häufig von seinem Fenster aus beobachtet, wie Mrs. Wasserman mit ihrem schwarzen Mantel, ihrem flachen schwarzen Hut und der geblümten Einkaufstasche den Weg hochging, vor dem Tor stehenblieb und sich umschaute. Und wenn sie draußen stand, blickte sie sich wieder um; sie blickte nach links und nach rechts und den gepflasterten Weg zurück …
    Im Lauf der Jahre hatte sie ihn auch ein paarmal mit zaghafter Stimme gebeten, sie doch bis zur High Street oder zur Underground-Station Angel zu begleiten. Um sie zu beruhigen, sagte er gewöhnlich, er gehe auch in diese Richtung; an seinen freien Tagen, wenn er nicht ins Büro mußte, war sein Tagesablauf sowieso völlig unstrukturiert, und er konnte ebenso in ihre wie in jede andere Richtung gehen. Er schaute zu, wie sie mit kindlichem Vergnügen die Trillerpfeife ausprobierte. Jury überragte die kleine, dickliche Frau; ihr schwarzes Haar war zu einem Knoten zusammengebunden und so straff nach hinten gekämmt, daß es wie eine eng anliegende Satinkappe aussah. Am Ausschnitt ihres dunklen Kleides steckte eine Filigranbrosche. Er fragte sich, was sie wohl für eine Jugend gehabt hatte – vor dem Krieg. Sie mußte ein sehr, sehr hübsches Mädchen gewesen sein.
    Der Krieg verband sie auch miteinander. Weder sein Vater noch seine Mutter hatten ihn überlebt. Sein Vater war in Dünkirchen gefallen, und seine Mutter war bei dem letzten Bombenangriff auf London ums Leben gekommen. Als er sieben Jahre alt war, fiel das Haus, in dem sie beide lebten, wie ein Kartenhaus über ihnen zusammen. Er hatte die ganze Nacht über im Dunkeln nach ihr gesucht und sie dann schließlich unter den Trümmern der Balken und Backsteine entdeckt – ihren Arm, ihre Hand, die aus dem Schutt herausragten, als hätte sie sie im Schlaf unter einer dunklen Decke herausgestreckt. Sieben Jahre lang wurde er innerhalb der Familie weitergereicht, von einer Tante oder Cousine zur nächsten, bis er sich dann mit vierzehn auf eigene Faust durchs Leben schlug. Danach verspürte er jedesmal, wenn er die Hand oder den Arm einer Frau auf dem dunklen Bezug eines Sessels oder auf dem Holz eines Tischs liegen sah – nur die Hand und den Arm, nicht das Gesicht, nicht den Körper –, einen dumpfen Schmerz, als würde sein Gehirn ausgebrannt. Dieses Bild, das eigentlich zum Alptraum hätte werden müssen, besaß jedoch etwas von dem, was Yeats mit «schrecklicher Schönheit» gemeint haben mußte. Die porzellanweiße Hand, die sich gegen die schwarzen, verkohlten Reste eines Londoner Mietshauses abhob, erschien ihm in seinen Träumen wie eine Fackel im Dunkeln, eine Lichtung im Wald.
    «Inspektor Jury», sagte Mrs. Wasserman und holte ihn aus dem brennenden Gebäude wieder in die Gegenwart zurück. «Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Es ist wirklich furchtbar nett von Ihnen.» Sie umklammerte seinen Arm wie die Planke eines sinkenden Schiffs. «Mein Bruder Rudy – Sie wissen schon, der, dem ich immer schreibe – der in Prag lebt –, glauben Sie, daß die Briefe, die sie kriegen, zensiert werden?» Jury schüttelte den Kopf; er wußte es nicht. «Ah, wer weiß das schon? Ich schreib ihm immer, er soll sich wegen mir keine Sorgen machen. Er macht sich nämlich dauernd Sorgen. Und ich hab ihm auch geschrieben, daß ein Polizeibeamter im Haus wohnt. Nein, nicht nur ein Polizist, ein richtiger englischer Gentleman. Gott segne Sie!»
    Er versuchte zu lächeln, konnte aber nur noch schlucken; er blickte auf den von der Sonne beschienenen Park. «Danke, Mrs. Wasserman.» Das Lächeln erstarb, und er hob die Hand zu einem kurzen Gruß.
    Als er durch die Camden Passage zur Angel Station ging, fühlte er sich richtig benommen. Sie hatte einen Teil seines Tages gerettet. Obwohl er nun schon seit zwanzig Jahren bei Scotland Yard arbeitete und es häufig mit dem Abschaum der Menschheit zu tun hatte, war Jury keineswegs so

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