Inspektor Jury spielt Domino
abgebrüht, daß ihn nichts mehr berührte.
Ein richtiger englischer Gentleman!
Jury betrachtete das immer noch als das größte Kompliment, das man jemandem machen konnte.
2
«Es ist an der Küste. Ein Fischerdorf – zumindest war es das mal. In der Nähe von Whitby. Im Sommer gibt es dort jede Menge Touristen.» Sergeant Alfred Wiggins zog ein Taschentuch von der Größe eines kleineren Tischtuchs hervor und schneuzte sich. Dann legte er den Kopf in den Nacken und träufelte sich mit einer kleinen Pipette etwas Flüssigkeit in die Nase; schnaubend zog er jeden Tropfen hoch. Wiggins hatte aus seiner Hypochondrie eine Kunst, wenn nicht einen Sport gemacht.
«Haben Sie immer noch diesen Schnupfen, Sergeant?» Die Frage war so offensichtlich rhetorisch, daß Wiggins erst gar nicht darauf antwortete. «Ist dieser Mord denn zuviel für die Leute in Yorkshire? So blöd sind sie doch auch nicht.»
«Sissnich nurn Mor.»
Jury hatte im Laufe der Jahre gelernt, Sergeant Wiggins’ schnupfengeschädigte Ausdrucksweise zu deuten. Er hatte so oft ein Taschentuch vor der Nase oder ein Hustenbonbon im Mund, daß seine Äußerungen meist ziemlich unverständlich klangen. «Wieso ‹nicht nur ’n Mord›?»
Wiggins pfropfte die kleine Flasche zu und neigte den Kopf, damit die Flüssigkeit schneller ablief. «Komplizierte Geschichte. Das Opfer, eine gewisse Gemma Temple, ist in Wirklichkeit jemand anders, zumindest wird das in Rackmoor behauptet.»
Jury fragte sich, ob sich aus diesem Satz ein Tip herausschälen ließ. «Können Sie das erklären?»
«Ja, Sir. Es scheint da gewisse Zweifel zu geben, was die Identität dieser Frau betrifft. Sie war nur vier Tage in Rackmoor und hat in einem Gasthof übernachtet. Nannte sich Gemma Temple. Aber diese Craels behaupten, sie sei eine Verwandte von ihnen gewesen. Inkognito – oder so.» Wiggins überflog seine Notizen. «Dillys March. So nannten sie die Craels. Ist vor – oh – fünfzehn Jahren von zu Hause ausgerissen und erst jetzt wieder aufgetaucht. Um sich gleich um die Ecke bringen zu lassen.»
«Sie wissen also nicht genau, wer sie ist?» fragte Jury. Wiggins schüttelte den Kopf. «Es dürfte doch nicht so schwer sein, über diese Gemma Temple was in Erfahrung zu bringen –»
«Die Polizei in Yorkshire weiß, daß sie aus London kam, Sir. Ihr letzter Wohnsitz war in Kentish Town. Viel mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.»
«Die Leiche?»
«Im Leichenschauhaus von Pitlochary. Ist ungefähr dreißig Kilometer von Rackmoor entfernt.»
«Und alles wurde aufgeräumt und saubergemacht? Wahrscheinlich sind sie auch noch mit dem Staubsauger drübergegangen –»
Wiggins’ Lachen klang eher wie ein Wiehern.
«Warum, zum Teufel, kommen mir die Fälle immer kalt auf den Tisch! Verdächtige?»
Wiggins schüttelte den Kopf. «Ich hab nichts gehört, abgesehen vielleicht von einem verrückten Maler, der an diesem Abend große Reden über irgendwelche Verbrecher schwang. Ich glaube über Rasputin.»
Jury blickte von seiner Tasse Tee hoch. «Rasputin? Was hat der damit zu tun?»
«Irgendein Russe. Er quasselte was von Übermenschen, die sich alles erlauben können.»
Jury dachte einen Augenblick lang nach. «Raskolnikow?»
«Klingen alle gleich, diese Russen.»
Jury blickte auf seine Uhr. «Haben Sie nach einem Zug geschaut?»
«Ja, Sir. Um fünf Uhr, Victoria Station; vorher gibt’s leider nichts. In York werden wir dann abgeholt.»
Vierter Teil
Rackmoor Nebel
1
Die Heizung des kleinen Ford Escort tuckerte verzweifelt und blies warme Luft auf den Boden, aber nirgendwo anders hin, so daß es Jury an den Füßen heiß und an der Nase eiskalt war.
Zu seiner Rechten wie zu seiner Linken erstreckten sich die Moore von North York, endlos weite, vereiste Flächen. Ganz in der Ferne waren die durchsichtigen Grautöne des Horizonts zu erkennen. Sie kamen an einigen bröckelnden Mauern vorbei. Ansonsten war das Land weder bebaut noch besiedelt. Es gab keine Straßen, keine Eisenbahnen, keine Bauernhöfe, keine Hecken, keine Mauern. Die Moore waren wie ein anderer Kontinent.
Von York aus waren sie ungefähr neunzig Kilometer lang immer nur geradeaus gefahren; in Pitlochary hatten sie haltgemacht, damit Jury sich die Leiche anschauen und mit dem Arzt sprechen konnte, der die Autopsie durchgeführt hatte. Nach ein paar Stunden Schlaf waren sie dann so früh aufgestanden, daß Jury das Gefühl hatte, den längsten Tag seines Lebens vor sich zu haben.
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