Inspektor Jury spielt Domino
Alle drei saßen auf ihren Pferden. Neben Dillys und Julian, die sich mitten in der Pubertät befanden, sah Rolfe schon sehr erwachsen aus. Er war sehr hübsch, aber nicht vergleichbar mit Julian, abgesehen vielleicht von den blonden Haaren, die er von seiner Mutter geerbt hatte. Dann gab es noch zwei Fotos mit Dillys und Julian, die wohl etwas später aufgenommen waren: Beide standen stocksteif auf der Treppe zum Old House. Auf drei weiteren war Dillys allein zu sehen, einmal auf ihrem Pferd, die beiden andern Male gegen die Stange eines Zauns gelehnt. Sie sah eher schüchtern aus; den Kopf hielt sie gesenkt, und ihre Augen waren von dem Pony und den Wimpern halb verdeckt. Sie konnte noch keine zwanzig gewesen sein und trug noch dasselbe leichte Seidenkleid, das sie schon auf der Treppe getragen hatte.
Er zählte zusammen: sieben Fotos von Dillys. Niemand war so häufig vertreten, und trotzdem behauptete Julian Crael, er könne sie nicht ausstehen.
Melrose wußte nicht, wieso ihm gerade jetzt ein alter Trick seiner Mutter einfiel. Wenn sie mehr Fotos als Rahmen hatte oder wenn sie eines der alten Fotos durch ein neueres ersetzen wollte, nahm sie einfach den Karton heraus und schob das neue vor das alte. Er fing mit den Fotos von Julian und Dillys an, aber hinter der samtartigen Verstärkung steckte immer nur das Stückchen Karton. Er versuchte bei vier verschiedenen Fotos sein Glück. Bei dem fünften, auf dem Dillys gegen den Zaun lehnte, entdeckte er dann noch einen zweiten Schnappschuß: Dillys in einem Park. War es der Regent’s Park? Oder der Hyde Park?
Jedenfalls war dieses Mädchen kein Teenager mehr; es war eine junge Frau. Dillys March? Oder Gemma Temple? Melrose hatte die Fotos von Gemma Temple nicht gesehen, aber wenn die Ähnlichkeit wirklich so groß war …
Auch in dem nächsten Rahmen entdeckte er noch ein zweites Foto. Sie stand vor einem Gebäude gegen ein eisernes Gitter gelehnt. Das Gebäude unterschied sich nicht von tausend andern Backsteinbauten der Stadt. Er hätte gerne noch weitergemacht, fürchtete aber, Julian könnte zurückkommen. Seit einer guten halben Stunde war Melrose nun schon in Julians Arbeitszimmer.
Er öffnete die Schreibtischschublade mit den Schnappschüssen, nahm zwei davon heraus und schob sie hinter die Fotos von Dillys. Das war natürlich etwas riskant, aber Julian würde sich wahrscheinlich zufriedengeben, wenn er an dem Rahmen erkannte, daß zwei Fotos dahintersteckten, und er würde sich nicht die Mühe machen, die hinteren hervorzuholen. Auf jeden Fall hatte sich die Sache gelohnt. Er mußte unbedingt Jury von seinem Fund unterrichten.
Als er wieder in seinem Zimmer war und sich auf dem Bett ausstreckte, wurde ihm klar, daß er auf eine heiße Spur gestoßen war. Ob diese Frau nun Dillys March oder Gemma Temple war, interessierte ihn in diesem Augenblick schon nicht mehr – egal, wer sie war, sie hätte nicht in London auftauchen dürfen. Und auch nicht in einem Bilderrahmen in Julian Craels Zimmern.
20
«Dillys March? Ja, die kannte ich, ist aber schon lange her. Was hat sie denn mit der Sache zu tun?»
Tom Evelyn, der Aufseher der Jagdhunde in Pitlochary, schleppte gerade mehrere Eimer mit Brei in die Zwinger, als Jury auf ihn zutrat. «Haben Sie diese Gemma Temple gesehen, als sie in Rackmoor war?» Evelyn schüttelte den Kopf. «Gemma Temple und Dillys March glichen sich wie ein Ei dem andern.»
Er riß die Augen auf – sie waren auffallend blau. Er war beinahe vierzig, aber man hätte ihn auf Ende Zwanzig schätzen können. Auch in zehn oder fünfzehn Jahren würde Tom Evelyn nicht viel anders aussehen – aufrecht, hager, dunkel und größer, als er in Wirklichkeit war, da er sich so gerade hielt. Und auch vor fünfzehn Jahren hatte er bestimmt schon so ausgesehen: ein Alarm, der Frauen gefiel, die Männer mochten, und vielleicht auch Frauen, die Männer nicht mochten.
«Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß die Ermordete Dillys March war, oder?»
«Nein. Aber wir würden gerne mehr über Dillys March erfahren von den Leuten, die sie gekannt haben.»
Evelyn rollte seine Ärmel hinunter und knöpfte langsam seine Lederweste zu. «Ich kann Ihnen nur eines sagen, Mann, wo die auftauchte, da gab’s garantiert Ärger.»
«Für wen?»
«Für jeden, auf den sie es abgesehen hatte.»
«Für Sie?»
Seine blauen Augen blickten über den Hof und die Hundezwinger hinweg in die Ferne. Er war verlegen, aber er zeigte seine Verlegenheit nicht. Jury
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