Inspektor Jury spielt Domino
er wieder auf seinem Zimmer war, nahm Melrose sich als erstes das Foto mit dem Backsteingebäude vor.
Zuerst dachte er, der weiße Fleck hinter der Frau sei ihr weißes Kleid, das sich in dem Fenster spiegelte. Als er aber das Vergrößerungsglas darüber hielt, erkannte er, daß es eine Gestalt in einem weißen Jackett war, ein Kellner wahrscheinlich. Auf dem Fenster, das unterhalb ihrer rechten Schulter endete, standen drei Buchstaben: A C E. War das ein Wort für sich oder nur der Teil eines Wortes? Er hielt das Vergrößerungsglas über die undefinierbaren Formen hinter dem Fenster. Laternen. Höchstwahrscheinlich diese Papierlaternen, die in billigen orientalischen Restaurants als Dekoration verwandt wurden. Das würde auch das weiße Jackett erklären. Und wie viele solcher Restaurants hatte das Gebäude auch diesen Lagerhaus-Charakter. ACE – es konnte alles bedeuten. Melrose schnappte sich das Londoner Telefonbuch, schlug die Seiten mit den Gaststätten auf, und der Mut verließ ihn. Es gab über hundert chinesische oder fernöstliche Restaurants. Als er aber die Spalten überflog, fiel ihm ein ziemlich häufiger Name auf: das Wort Palace. Er schaute auf das Foto. Möglicherweise waren die drei Buchstaben die letzte Silbe dieses Wortes.
Er ging noch einmal die Seiten mit den Restaurants durch und schrieb sich, angefangen mit «China Palace», alle Zusammensetzungen mit Palace heraus. Als er damit fertig war, hatte er ungefähr zwanzig Namen auf seiner Liste stehen, aber das war auf jeden Fall besser als einhundert.
Melrose klappte das Telefonbuch zu und überlegte sich, was zu machen war. Da Jury und Wiggins nicht da waren, sollte er die Fotos vielleicht Harkins unterbreiten. Aber Harkins konferierte, wie er gehört hatte, mit dem Polizeidirektor in Leeds.
Zum Teufel damit, er konnte ja zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Er konnte selbst nach London fahren, New Scotland Yard die Beweisstücke übergeben, Jury bei der Suche nach jenem Palace-Restaurant behilflich sein und in York Zwischenstation machen, um sich durch irgendeinen schlauen Trick Agatha vom Hals zu schaffen. (Nicht allzu schlau, da es sich um Agatha drehte.) Er schaute auf die Uhr: noch nicht einmal ein Uhr. Er könnte in York noch zu Mittag essen oder schon seinen Tee einnehmen und um halb zehn oder zehn in London sein. Ohne sich beeilen zu müssen.
Melrose war zufrieden mit sich. Drei Fliegen auf einen Schlag.
Oder vielmehr zwei Fliegen und einen Brummer.
22
Der Sherry Club war ein unauffälliges, cremefarbenes Gebäude mit einer glatten Fassade ganz in der Nähe von Shambles, im Schatten der Kathedrale. Sie hatten sich offensichtlich bemüht, alles zu vermeiden, was nach Reklame aussah. Nur ein kleines Messingschild rechts neben der eichenen Eingangstür wies auf den Club hin. Er hatte das Aussehen und die Funktion eines Men’s Club , aber in seinem Speisesaal wurden inzwischen auch Frauen zugelassen, solange sie sich weiblich-diskret verhielten und lautlos bewegten (zumindest hatte man diesen Eindruck).
Nicht der geeignete Ort, sich mit Agatha zu treffen.
Melrose war wütend, daß er eine, wenn nicht gar zwei Stunden opfern mußte, um mit seiner Tante Tee zu trinken, aber er wußte, daß sie sehr viel umgänglicher war, wenn sie sich den Bauch vollgeschlagen hatte. Und dann war dieses Treffen ja nur ein kleines Opfer, wenn es ihm gelang, sie von Rackmoor fernzuhalten. Ganz zu schweigen von dieser Teddy.
Er hatte sich an einen Tisch bei einem der hohen Fenster gesetzt, um die Straße im Auge behalten zu können. Nicht, daß er scharf war auf diesen ersten Blick von seiner Tante, aber trotz seiner Anweisungen war sie durchaus in der Lage, vorbeizulaufen, denn der Sherry hatte den Club nicht gerade bekannt gemacht. Hier konnte er ans Fenster klopfen, falls es nötig sein sollte.
Er war absichtlich etwas früher gekommen, um sich die andern Gäste anschauen zu können, bevor sie auftauchte. So kurz nach der Lunchzeit war der Saal jedoch fast leer. An einem Tisch weiter hinten entdeckte er einen Mann und zwei Frauen; sie schieden aus. Außer ihnen gab es nur noch zwei weitere Personen, ein kleines, vogelartiges Männchen, das sich mit Gebäck vollstopfte, und einen anderen Mann, der für Melroses Zwecke schon eher in Frage kam: dunkler Anzug, Schirm und Melone wie ein Gardeoffizier. Er hatte habichtartige, starre Züge. Die Melone lag vor ihm auf dem Tisch; der fest zusammengerollte Schirm (der bestimmt noch nie geöffnet worden
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