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Inspektor Jury spielt Domino

Inspektor Jury spielt Domino

Titel: Inspektor Jury spielt Domino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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blickte auf die plumpe Hand auf seinem Arm und zweifelte nicht an ihren Worten. Zwei von den Ringen seiner Mutter steckten bereits an ihren Fingern.
    «Sehr anständig von dir, Tante.» Er tippte an seinen Hut.
    Und alle drei – Melrose, Agatha und Mr. Todd – gingen ihrer Wege.

Fünfter Teil
Limehouse Blues
1
    Jury fuhr erst einmal zu seiner Wohnung, um nach der Post zu sehen. Im Briefkasten lagen ein paar Rechnungen, diverse Prospekte und ein Brief von seiner Cousine aus den Potteries. Obwohl nur eine Cousine, war sie wie eine Schwester für ihn, woran sie ihn auch unaufhörlich erinnerte. Das Erinnern galt jedoch stets seinen brüderlichen, nie aber ihren schwesterlichen Pflichten.
    Er riß den Umschlag auf und las den Brief, während er die zwei Treppen zu seiner Wohnung hinaufstieg. Wie üblich wurde sie von Alec, ihrem trunksüchtigen Ehemann, den Kindern, von der Geldnot und der vielen Arbeit fast an den Rand des Wahnsinns getrieben. Jury schaute auf den Poststempel. Der Brief hatte bereits drei Tage wimmernd im Kasten gelegen.
    War er nur drei Tage weg gewesen? Müde streckte er sich aus. Er fühlte sich, als wäre er drei Wochen lang im Moor herumgelaufen. Er knipste die Schreibtischlampe an, besah sich das Durcheinander – angelesene Bücher, die über das ganze Wohnzimmer verstreut lagen, dazwischen gebrauchte Kaffeetassen – und hob das Telefon in den Schoß. Er saß in dem einzigen Sessel, den Kopf zurückgelehnt, und dachte über seine Cousine nach. Zugegeben, der Ehemann taugte nicht viel. Aber sie hatte ihn sich ja schließlich selbst ausgesucht, oder? Entscheiden wir nicht selbst über unser Leben, zumindest zum Teil? Warum müssen uns die Leute, die uns nahestehen, auch immer wieder mit Sachen überraschen, über die wir, wie über Möbelstücke im Dunkeln, stolpern und uns fragen: Wer hat dich ausgerechnet da hingestellt?
    Unwillig nahm er den Hörer ab. Er wußte, es würde schon eine gute Viertelstunde in Anspruch nehmen, alle ihre Sorgen abzuhandeln. Der vielen Tränen wegen wurde daraus fast eine halbe Stunde. Er gab ihr schließlich den Rat, Ferien zu machen – eine Haushälterin zu engagieren und einfach für eine Woche wegzufahren, nach Blackpool oder anderswohin, das Geld dafür würde er ihr schicken. Als sie auflegte, klang sie beinahe fröhlich. Er wußte, er tat es nicht ihretwegen, sondern wegen ihrer Eltern. Sie hatten sich nach dem Krieg ihm gegenüber wirklich sehr anständig benommen, als sie ihn aus dem Heim holten und bei sich aufnahmen. Inzwischen waren beide tot. Und er dachte auch an ihre Kinder. Immer wenn sie mit den Nerven fertig war, mußten es die Kinder ausbaden. Er sah sie vor sich, eine Reihe blanker Gesichter. Das brachte seine Gedanken auf Bertie Makepiece. Er war überzeugt, daß Berties Mutter in London war. Jury zog den Briefumschlag, den er von Adrian bekommen hatte, aus der Tasche und prüfte den Absender: R.V.H., S.W.I. Die Initialen würden ihn nirgendwo hinführen; wer immer der Brief Schreiber war, die Adresse war unvollständig. Möglicherweise eine Geschäftsadresse. Er schlug mit dem Briefumschlag gegen seinen Daumen und überlegte. Stand das «H» vielleicht für «Hotel»? Das würde man im Yard leicht feststellen können.
    Er war gerade dabei, ein paar Zeilen an seine Cousine zu schreiben, als es ganz leise an der Tür klopfte; es klang, als wollte sich der Besuch im voraus entschuldigen. «Oh, Inspektor Jury.» – Es war Mrs. Wasserman. Sie trug noch ihren schwarzen Mantel und schwarzen Hut und hielt ihre Handtasche fest an die Brust gepreßt. Sie trug immer Schwarz. Mrs. Wasserman hatte nie aufgehört zu trauern. «Verzeihen Sie, Sie sind sicher erst gekommen, aber wissen Sie, was passiert ist?»
    «Kommen Sie doch rein, Mrs. Wasserman.»
    Zaghaft trat sie ins Zimmer, ihr Blick suchte die Ecken nach Eindringlingen ab. «Ich bin auf dem Weg zu meiner Freundin, Mrs. Eton, Sie wissen schon. Auf alle Fälle, heute, vorhin, ist mir jemand den ganzen Weg von der Camden Passage gefolgt. Es war dieser Mann …»
    Für Mrs. Wasserman waren die Straßen voller Gefahren. Überall lauerten sie wie geifernde Hunde hinter Gittern. Jury fragte sich, ob die Straßen sie wohl an das Niemandsland erinnerten, wo sie wie Vieh aus dem Eisenbahnwaggon heraus ins Lager getrieben worden waren. Die Angst, die sie damals empfand, mußte sich so tief in ihre Seele eingefressen haben, daß sie sich nie mehr, weder zeitlich noch räumlich, auf ihren realen Ursprung

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