Inspektor Jury spielt Katz und Maus
schon mit Käse vollgefressen hatte.
«Warum trägst du – wie heißt er?»
«Sam.»
Jury deutete mit dem Kopf auf die Schultasche. «Da sind Luftlöcher drin.»
«Weiß ich. Damit ich ihn ins Haus schmuggeln kann, und wieder raus. Sally» – sie senkte wieder den Kopf – «hat mir kein Haustier erlaubt. Sie hat immer gesagt, daß sie das ganze Haus dreckig machen.»
Das schien zu dem Bild zu passen, das er von Mrs. MacBride hatte. «Das hast du aber schlau angestellt.»
«Ach, das hab ich mir nicht ausgedacht. Das war Carrie. Sie ist meine beste Freundin. Sie hat das Kätzchen im Wald gefunden und die Tasche hergerichtet. Gestern.»
Sie redete, als ob Sam, der Kater, die Tragödie verursacht hätte. Jetzt wühlte sie in der Tasche und holte einen Apfel heraus. «Wollen Sie den zum Mittagessen?»
«O ja, bitte», sagte Jury ernsthaft, als sie ihm den Apfel gab. Das erste Bestechungsgeschenk, das er je angenommen hatte. «Ich kenne Carrie nicht. Ich hab nur schon mal ihren Namen gehört. Ist das eine Schulfreundin von dir?»
Neahle lachte, aber dann schlug sie die Hand vor den Mund, als ob ihr eingefallen wäre, daß man nicht lacht, wenn gerade jemand gestorben ist. «Nein. Carrie geht nicht zur Schule. Die Sekretärin von der Baronin unterrichtet sie oder so was. Sie ist viel älter als ich. Fünfzehn. Ich weiß nicht, warum sie mich mag.»
Beste Freunde und Kätzchen konnte man ebenso wie Tanten für immer verlieren, sagte ihr kummervoller Blick.
«Aber warum soll sie dich denn nicht mögen? Das Alter spielt doch keine Rolle.»
«Wie alt sind Sie denn?»
«Ziemlich alt», sagte Jury ernst. Er dachte an Fiona Clingmore, lächelte und fügte hinzu: «Vierzig werde ich nie wieder.»
Sie riß die Augen auf. « So alt sehen Sie aber nicht aus.»
«Danke schön. Hör mal zu, Neahle. Du weißt, daß deine Tante – Mrs. MacBride – hier gefunden worden ist.»
Sie nickte ernst und beobachtete, wie Sam nach einem winzigen Wollknäuel schlug, das sie für ihn an die Lampenschnur geknotet hatte.
«Weißt du, ob sie vorher schon mal hier gewesen ist?»
«Nein. Hier kommt niemand her, nur ich, und manchmal Carrie.»
«Okay. Und wann warst du zum letztenmal hier?»
«Vor zwei Tagen.»
«Hast du die Tür immer geschlossen gehalten?»
Sie sah ihn verwirrt an.
«Ich meine, war der Türknauf innen an der Tür dran? Oder ist er von dem Stift abgegangen?»
Sie runzelte die Stirn. «Wahrscheinlich. Ich hab nicht so drauf geachtet.» Neahle kratzte sich am Ohr. «Es war dunkel.»
Wenn es windig war, konnte die Tür leicht zuschlagen. «Hättest du Angst, wenn du hier eingeschlossen würdest?»
Sie wirkte überrascht. «Ich? Nein. Ich gehe gern hierher und lese, und manchmal schlafe ich auf dem Bett da.»
Sam hatte sich an dem Wollfaden festgeklammert und schwang sich daran hin und her wie ein Pendel. «Man könnte zwar schreien, wenn man hier eingeschlossen wäre, aber es ist so weit vom Haus entfernt –» Sie hielt inne, beobachtete den kleinen Kater und legte den Kopf in die Hände.
«Gestern nacht war es windig. Neahle, man kann nicht jeden lieben, den man eigentlich lieben sollte. Wenn sie dir keine Haustiere erlaubt hat und du die ganze Kocherei machen mußtest, warum solltest du sie lieben?»
Sie sah ihn kurz an. «Sie haben Ihren Apfel nicht gegessen.»
«Weißt du, ob Sally irgendwann mal hier gewesen ist?»
Neahle schüttelte den Kopf. «Warum sollte sie? Sie wollte nicht mal, daß ich hierhin gehe.»
«Vielleicht ist sie mal hergekommen, um, sagen wir, einen Freund zu treffen.»
«Männer oder so?» Neahle versuchte welterfahren auszusehen.
Jury lächelte. «Ja, Männer oder so.»
Neahle kratzte sich am Ohr. «Also, Mr. Donaldson zum Beispiel. Er ist gruselig. Das sagt Carrie. Er arbeitet im ‹Haus Diana›.»
«Sonst noch jemand?»
Sie biß sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
Pasco hätte sie nicht erwähnt, selbst wenn sie von seinen Besuchen gewußt hätte. Jury rieb den Apfel an seiner Regenjacke ab und biß krachend hinein. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück und beobachtete Sam beim Schaukeln. Sam ließ sich herunterfallen, kam herüber und schaute ihn neugierig an.
Neahle begann zu weinen.
«Keine Sorge, Neahle.» Jury nahm Sam und setzte ihn auf Neahles Schoß. Ihre Tränen tropften auf sein schwarzes Fell. Jury wartete, bis sie sich ausgeweint hatte.
Das Ende der Schnur, an die Neahle die Wolle geknotet hatte, führte zu einer Buchse und zu einer Lampe mit
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