Intensity
Männer in den Kopf schoß, einen nach dem anderen, so schnell, daß dem zweiten nicht mal Zeit blieb, sich in Dekkung zu werfen, bevor sie ihm eine Kugel ins Gesicht jagte. Geschmeidig und schnell wie eine Eidechse war Chyna geflohen, überzeugt, daß Memphis verrückt geworden war und sie alle umbringen würde. Sie versteckte sich auf dem Heuboden der Scheune. Während der Stunde, welche die Erwachsenen brauchten, um sie zu finden, stellte sie sich so oft vor, wie ihr eigenes Gesicht vom Einschlag einer Kugel aufgelöst wurde, daß danach vor ihrem geistigen Auge jedes Bild – sogar die flüchtigen Blicke auf den Wilden Wald, in den sie nicht ganz entfliehen konnte – völlig in Rottönen gehalten war, in nassem Rot.
Aber sie hatte diese Nacht überlebt.
Sie hatte sehr lange überlebt. Eine Ewigkeit.
Und sie würde auch das überleben – oder bei dem Versuch sterben.
Ohne die Augen zu öffnen, lief Chyna so schnell zurück, wie die Fußfesseln es zuließen, und trotz ihrer Furcht kam ihr der Gedanke, daß sie schon einen komischen Anblick abgeben mußte, weil sie so hektisch schlurfen mußte, um genügend Geschwindigkeit aufzubauen. Sie mußte sich mit schnellen kleinen Babyschritten in ihre Wirbelsäulenverletzung stürzen. Aber dann prallte sie gegen die Steinwand, und daran war nichts mehr komisch.
Sie hatte sich leicht vorgebeugt, um sicherzustellen, daß die Stuhlbeine und nicht andere Teile des Stuhls zuerst gegen die Wand prallten und den harten ersten Schlag abbekamen. Da ihr gesamtes Gewicht in dem Stoß lag, folgte dem Aufprall das befriedigende Geräusch von zersplitterndem Holz – und dann wurden die Holzbeine schmerzhaft gegen die Hinterseiten ihrer Schenkel gerammt. Chyna stolperte vorwärts, und der obere Teil des Stuhls peitschte, wie sie es erwartet hatte, gegen ihren Nacken, und sie verlor das Gleichgewicht. Sie fiel auf den Steinfliesen auf die Knie, schlug, den Stuhl noch auf dem Rükken, auf den Boden und prellte sich dabei an so vielen Stellen, daß eine Bestandsaufnahme zu mühsam war.
Da sie noch immer an den Füßen gefesselt war, konnte sie sich nicht erheben, wenn sie sich nicht irgendwo festhielt. Sie kroch zum nächsten Sessel und zog sich hoch, wobei sie vor Anstrengung und Schmerz aufstöhnte.
Ihr gefiel der Schmerz nicht, wie es bei Vess angeblich der Fall war, doch sie würde darüber auch nicht meckern. Zumindest konnte sie noch kriechen und stehen. Die Wirbelsäule war noch heil. Und es war besser, Schmerz zu fühlen, als überhaupt nichts.
Die Stuhlbeine und die Querstangen dazwischen schienen intakt zu sein. Aber dem Geräusch des Aufpralls nach zu urteilen, hatte sie sie zumindest geschwächt.
Beim zweiten Versuch entfernte sie sich zweieinhalb Meter von der Wand, schlurfte so schnell zurück, wie sie konnte, und versuchte, die Stuhlbeine im gleichen Winkel wie zuvor gegen die Wand zu rammen. Sie wurde mit einem lauten und deutlichen Knacken belohnt – dem Geräusch von splitterndem Holz, obwohl es sich wie splitternde Knochen anfühlte.
Ein Damm brach in ihr und setzte Schmerz frei. Kalte Strömungen zerrten sie hinab, aber sie widerstand dem Sog mit der verzweifelten Entschlossenheit eines Schwimmers, der gegen einen dunklen Strudel ankämpft.
Diesmal hatte es sie nicht von den Füßen gerissen. Sie schlurfte vorwärts. Ohne innezuhalten, um wieder zu Atem zu kommen, noch immer zusammengekauert, um zu gewährleisten, daß die Stuhlbeine die volle Wucht des Aufpralls abbekamen, stürmte sie rückwärts gegen die steinerne Wand.
Chyna erwachte bäuchlings auf dem Boden vor dem Kamin; ihr war sofort klar, daß sie zwei, drei Minuten bewußtlos gewesen sein mußte.
Der Teppich war so kalt und wellig wie eine in Bewegung befindliche Wasseroberfläche. Sie trieb nicht darin, sondern schimmerte auf der gekräuselten Oberfläche, als sei sie ein kupferner Funke Sonnenlicht oder die dunkle Spiegelung einer Wolke.
Der schlimmste Schmerz war in ihrem Hinterkopf. Sie mußte ihn irgendwo angestoßen haben.
Sie fühlte sich viel besser, wenn sie nicht an ihre Schmerzen oder Probleme dachte, sondern einfach akzeptierte, daß sie nichts weiter als ein Wolkenschatten war, der auf der spiegelnden Oberfläche eines wogenden Flusses ritt, so substanzlos wie die gekräuselten Muster auf dem strömenden Wasser, die flüssig und kühl davonglitten, immer nur davon.
Ariel. Im Keller. Zwischen den wachsamen Puppen. Ich bin meiner Schwester Hüterin.
Irgendwie kam sie auf Hände
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