Intensity
uhrlosen Anderswo hatte Zeit für Ariel nicht die geringste Bedeutung.
Chyna legte den Bohrer auf die Werkbank. Sie zog das Mädchen vor das Werkzeug und legte ihre Hände darauf.
Ariel wich nicht zurück und ließ auch nicht die Hände von der Bohrmaschine gleiten, machte jedoch auch keinerlei Anstalten, sie hochzuheben.
Chyna wußte , daß das Mädchen sie hörte, die Situation verstand und sich irgendwo tief in ihrem Inneren danach sehnte, ihr zu helfen.
»Unsere Hoffnung liegt in deinen Händen. Du kannst es.«
Sie holte den Hocker, den sie zwischen Türblatt und Rahmen der äußeren Tür geklemmt hatte, und setzte sich. Sie legte die Hände auf die Werkbank und drehte die Gelenke so, daß das winzige Schlüsselloch der linken Handfessel freilag.
Ariel starrte weiterhin die Betonblöcke in der Wand an, sah durch die Wand, sprach lautlos mit einer übersinnlichen Freundin hinter allen Wänden und schien die Bohrmaschine gar nicht wahrzunehmen. Vielleicht war das für sie gar keine Bohrmaschine, sondern ein ganz anderer Gegenstand, der sie entweder mit Hoffnung oder mit Furcht erfüllte und über den sie mit ihrer Phantomfreundin sprach.
Selbst wenn das Mädchen die Bohrmaschine in die Hände nehmen und den Blick auf die Handschellen richten würde, kam Chyna die Aussicht, daß sie diese Aufgabe bewältigen konnte, sehr gering vor. Noch geringer schien die Chance zu sein, daß sie darauf achten würde, den Bohreinsatz nicht durch Chynas Handfläche oder -gelenk zu treiben.
Andererseits: Obwohl in diesem Leben die Aussicht, von Problemen oder einem Feind erlöst zu werden, immer sehr gering gewesen war, hatte Chyna unzählige Nächte des Blutrausches und des Jagdfiebers überlebt. Überleben war natürlich viel weniger als Erlösung, aber es war eine Grundvoraussetzung.
Auf jeden Fall war sie jetzt bereit, etwas zu tun, wozu sie nie zuvor imstande gewesen war, auch nicht bei Laura Templeton: vertrauen . Rückhaltlos vertrauen. Und sollte dieses Mädchen es versuchen und scheitern, sollte der Bohreinsatz abrutschen und Fleisch statt Stahl beschädigen, würde Chyna ihr daraus keinen Vorwurf machen. Manchmal war es schon ein Triumph, wenn man es versuchte.
Und sie wußte, daß Ariel es versuchen wollte.
Sie wußte es.
Vielleicht eine Minute lang ermutigte Chyna das Mädchen, einfach anzufangen, und als das nicht funktionierte, versuchte sie, schweigend zu warten. Doch die Stille führte ihre Gedanken zu den bronzenen Hirschen und der Uhr, über die sie auf dem Kaminsims sprangen, und vor ihrem geistigen Auge nahm die Uhr das Gesicht des jungen Mannes an, der in dem Schrank im Wohnmobil hing, die Lider und Lippen zugenäht, zu einer Stille verdammt, die sogar noch tiefer war als die Stille hier im Keller.
Ohne zu überlegen, selbst überrascht, was sie tat, aber ihrem Instinkt vertrauend, begann Chyna dem Mädchen zu erzählen, was in der lange vergangenen Nacht ihres achten Geburtstags passiert war: das Haus auf Key West, der Sturm, Jim Woltz, der hektische Palmetto-Kakerlak unter dem tiefen Eisenbett …
Betrunken von Dos Equis und high von zwei kleinen weißen Pillen, die er mit der ersten Flasche Bier eingeworfen hatte, hatte Woltz Chyna aufgezogen, weil es ihr nicht gelungen war, alle Kerzen auf ihrer Geburtstagstorte mit einem einzigen Atemzug auszublasen; eine brannte weiter. »Das bringt Pech, Kleine. O Mann, das bringt das ganze Unheil dieser Welt auf uns. Wenn du nicht alle Kerzen ausbläst, ist das für die Gremlins und Trolle eine Einladung, in dein Leben zu treten, alle möglichen bösen Typen, die es auf deine kleinen Schätze abgesehen haben.« Genau in diesem Augenblick pulsierte ein weißes Licht durch den Nachthimmel, und die Schatten der Palmwedel sprangen über die Küchenfenster. Das schäbige Haus klapperte in den Schockwellen von Donnerschlägen, die so stark wie Bombenexplosionen wirkten, und der Sturm brach los. »Siehst du?« sagte Woltz. »Wenn wir das nicht sofort wiedergutmachen, werden ein paar Bösewichte über uns herfallen und uns abmurksen und in blutige Stücke zerhacken und in Ködereimer stecken und auf einer Hochseejacht rausfahren und mit der Schleppangel Haie fischen und uns als Köder benutzen. Willst du ein Leckerbissen für einen Hai sein, Kleine?« Diese Rede jagte Chyna eine fürchterliche Angst ein, doch ihrer Mutter kam sie witzig vor. Ihre Mutter hatte seit dem Spätnachmittag Wodka-Lemon getrunken.
Woltz zündete alle Kerzen wieder an und bestand darauf,
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