Intensity
Schere aus der Schublade.
Im Wohnbereich hinter dem Führerhaus nahm sie in einem Sessel Platz. Zuvor hatte sie sämtliche Schutzkleidung abgelegt. Nun zog sie den rechten Schuh aus. Ihr Socken war blutgetränkt, und sie streifte ihn vorsichtig ab.
Aus den beiden Bißwunden in ihrem Spann quoll dunkles, dickes Blut. Es spritzte jedoch nicht aus den Wunden, sondern sickerte lediglich, und an den Verletzungen selbst würde sie in nächster Zeit wohl kaum sterben.
Sie packte schnell zwei Lagen Gaze auf die Löcher und befestigte sie mit Hansaplaststreifen. Indem sie die Klebestreifen strammzog, konnte sie etwas Druck ausüben und so die Blutung verlangsamen oder zum Stillstand bringen.
Sie hätte die Wunden lieber mit Jod oder ähnlichem gesäubert, doch ihr stand nichts dergleichen zur Verfügung. Auf jeden Fall würde eine Infektion erst in ein paar Stunden einsetzen, und bis dahin würde sie von hier fort sein und medizinische Hilfe erhalten haben. Oder an anderen Ursachen gestorben sein.
Die Gefahr von Tollwut kam ihr verschwindend gering vor. Edgler Vess würde auf die Gesundheit seiner Hunde achten. Sie hatten bestimmt alle vorgeschriebenen Impfungen erhalten.
Ihr Socken war kalt und glitschig vom Blut, und sie versuchte gar nicht erst, ihn wieder anzuziehen. Sie schob den bandagierten Fuß in den Schuh und schnürte ihn etwas lockerer als sonst zu.
In dem schmalen Schlitz zwischen Küchenschrank und Kühlschrank war eine Klapptrittleiter verstaut. Sie trug sie den kurzen Gang entlang bis zum Ende des Fahrzeugs und klappte sie unter der Dachluke auseinander, einer flachen Scheibe aus milchigem Plastik von etwa einem Meter Länge und vielleicht einem halben Meter Breite.
Sie stieg auf den Stuhl, um die Luke zu untersuchen; dabei hoffte sie, daß sie sich entweder schrägstellen ließ, damit frische Luft hereinkam, oder von innen an dem Dach befestigt war. Leider war die Scheibe fest angeschraubt und hatte keinerlei Lüftungsfunktion, und sie war auf der Außenseite angebracht, so daß sie von innen an keine Schrauben oder Nieten herankam.
Unter ihrer gepolsterten Kleidung hatte sie einen Werkzeuggürtel getragen, den sie in einer Schublade von Vess’ Werkbank gefunden hatte. Sie hatte ihn mit dem Rest der Montur ausgezogen. Nun lag er auf dem Tisch in der Eßecke.
Da sie nicht gewußt hatte, welche Werkzeuge sie brauchen würde, hatte sie eine normale Zange, eine Kneifzange, eine flache und eine runde Feile sowie normale und Kreuzschlitzschraubenzieher in mehreren Größen mitgenommen. Und einen Hammer, das einzige Werkzeug, das sie jetzt brauchen konnte.
Wenn sie sich auf die erste der beiden Stufen der Trittleiter stellte, war ihr Scheitel nur fünfundzwanzig Zentimeter von der Dachluke entfernt. Sie wandte das Gesicht ab und schwang den Hammer mit der linken Hand, und der flache Stahlkopf schlug mit einem fürchterlichen Scheppern und Klappern gegen das Plastik.
Die Dachluke war nicht beschädigt.
Chyna schwang den Hammer unerbittlich. Jeder Schlag hallte in dem Plastik wider, aber auch in ihren angespannten und müden Muskeln und schmerzenden Knochen.
Das Wohnmobil war mindestens fünfzehn Jahre alt, und es schien sich um die ursprüngliche, von der Fabrik eingebaute Dachluke zu handeln. Sie bestand nicht aus Plexiglas, sondern aus einem weniger beeindruckenden Material; im Lauf vieler Jahre des Sonnenscheins und schlechten Wetters war das Plastik spröde geworden. Schließlich sprang es an einer Ecke des rechteckigen Rahmens. Chyna hämmerte auf die Spitze des Risses ein, trieb ihn bis zur Ecke, dann an der schmalen und zum Schluß an der breiten Seite entlang.
Sie mußte mehrere Pausen einlegen, um wieder zu Atem zu kommen und den Hammer von der einen Hand in die andere zu wechseln. Schließlich schepperte die Scheibe locker im Rahmen; nun schien sie nur noch von Materialsplittern entlang der Risse und dem unbeschädigten vierten Rand gehalten zu werden.
Chyna ließ den Hammer fallen, bog langsam ein paarmal die Hände, um die Steifheit aus ihnen zu vertreiben, und drückte dann beide Handflächen gegen das Plastik. Vor Anstrengung keuchend, stieß sie nach oben, während sie auf die zweite Stufe der Leiter kletterte.
Mit einem spröden Splittern von Plastik hob die Scheibe sich um zwei, drei Zentimeter, und die gezackten Ränder der Risse rieben sich quietschend aneinander. Dann bog die Plastikplatte sich an der vierten Seite zurück, ächzte, leistete ihr Widerstand … Widerstand … bis
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