Intensity
Lauf der Jahre immer wieder behandelt worden waren.
Das Schiebefenster von Vess’ Schlafzimmer im Obergeschoß stand zehn Zentimeter weit auf; bevor sie das Haus verließ, hatte sie es geöffnet. Sie schob ihre schmerzenden Hände durch die Öffnung und drückte die untere Scheibe stöhnend hoch. In der feuchten Luft war das Holz aufgequollen, doch obwohl das Fenster ein paarmal klemmte, konnte sie es schließlich ganz aufdrücken.
Sie stieg in Vess’ Schlafzimmer, in dem sie eine Lampe hatte brennen lassen.
Im Flur warf sie einen Blick zu der offenen Tür gegenüber vom Schlafzimmer. Dahinter lag das dunkle Arbeitszimmer, und noch immer beunruhigte sie das Gefühl, daß sie darin etwas übersehen hatte, etwas Lebenswichtiges, das sie über Edgler Vess wissen sollte.
Aber sie hatte keine Zeit für weitere Detektivarbeiten. Sie eilte die Treppe hinab ins Wohnzimmer.
Ariel hockte in dem Sessel, in dem Chyna sie zurückgelassen hatte. Sie hatte noch immer die Knie angezogen und schaukelte geistesabwesend.
Die Uhr auf dem Kamin zeigte vier Minuten nach elf.
»Bleib ja da sitzen«, sagte Chyna zu dem Mädchen. »Nur noch eine Minute, Schatz.«
Sie ging durch die Küche in den Wäscheraum und hielt nach einem Besen Ausschau. Sie fand sowohl einen Besen als auch einen Mop. Der Mop hatte den längeren Stil, also nahm sie ihn statt des Besens.
Als sie wieder ins Wohnzimmer trat, hörte sie ein vertrautes und zugleich gefürchtetes Geräusch. Quietsch-quietsch. Quietsch-quietsch-quietsch.
Sie schaute zum nächsten Fenster und sah, daß der unverletzte Dobermann mit den Krallen über das Glas scharrte. Seine spitzen Ohren waren aufgerichtet, legten sich jedoch an den Schädel, als Chyna Blickkontakt mit dem Tier herstellte. Der Dobermann stieß das nun schon bekannte gierige Knurren aus, das auf Chynas Nacken eine schwache Gänsehaut verursachte.
Quietsch-quietsch-quietsch.
Chyna wandte sich von dem Fenster ab, drehte sich zu Ariel um – und richtete ihre Aufmerksamkeit dann auf das andere Wohnzimmerfenster. Ein Dobermann hatte die Vorderpfoten auf dessen Fensterbank gelegt.
Das mußte das erste Tier sein, dem sie begegnet war, als sie das Haus verlassen hatte, jenes, dem sie Salmiak in die Schnauze gesprüht hatte. Es hatte sich schnell erholt und sie in den Fuß gebissen, als der dritte Hund sie zu Boden geworfen hatte.
Sie war überzeugt, den zweiten Hund, der wie eine Granate aus der Dunkelheit geschossen kam und sie angesprungen hatte, geblendet zu haben, und auch den dritten. Bis jetzt war sie davon ausgegangen, daß sie bei ihrem zweiten Versuch auch dieses Tier in die Augen getroffen und kampfunfähig gemacht hatte.
Sie hatte sich geirrt.
Da draußen war sie natürlich durch das beschlagene Visier selbst fast geblendet gewesen – und außer sich vor Angst, weil der dritte Hund sie auf den Boden gezwängt, an der Polsterung an ihrer Kehle genagt und an ihrem Kinn geleckt hatte. Sie hatte lediglich mitbekommen, daß dieses Tier aufgejault hatte, als sie es mit dem Salmiak bespritzte, und danach ihren Fuß in Ruhe gelassen hatte.
Der Salmiakstrahl mußte erneut auf die Schnauze des Hundes gespritzt sein, genau wie bei ihrer ersten Begegnung.
»Du Glückspilz«, flüsterte sie.
Der zweimal verletzte Dobermann kratzte nicht an der Fensterscheibe. Er beobachtete sie nur. Aufmerksam. Mit aufgerichteten Ohren. Ihm entging nichts.
Vielleicht war es gar nicht derselbe Hund. Vielleicht gab es fünf davon. Oder sechs.
Am anderen Fenster: Quietsch-quietsch. Quietsch-quietsch.
Chyna ging vor Ariel in die Hocke. »Schatz«, sagte sie, »wir können jetzt gehen.«
Das Mädchen schaukelte.
Chyna ergriff eine von Ariels Händen. Diesmal mußte sie die Finger nicht aus einer marmorharten Faust aufzwingen, und auf ihr Drängen erhob das Mädchen sich aus dem Sessel.
Den langstieligen Mop in der einen Hand und das Mädchen mit der anderen führend, ging Chyna durch das Wohnzimmer, vorbei an den beiden großen Fenstern in der Vorderwand. Sie bewegte sich langsam und sah die Dobermänner nicht direkt an, weil sie befürchtete, jede hastige Bewegung oder ein weiterer direkter Blickkontakt könne sie dazu bringen, durch das Glas zu springen.
Sie und Ariel traten durch die türlose Öffnung zur Treppe.
Hinter ihnen fing einer der Hunde zu bellen an.
Chyna gefiel das nicht. Ganz und gar nicht. Bislang hatte keiner von ihnen gebellt. Ihr diszipliniertes, verstohlenes Vorgehen konnte bei einem schon eine Gänsehaut
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