Intensity
Ordentlichkeit aufgeschnitten worden, die eines gewissenhaften Schneiders würdig war; die blauen Stoffteile waren rechts und links über die Laken ausgebreitet worden. Das Schlafanzughemd war ihren Rücken hinaufgeschoben worden; es hing nun in zerknitterten Falten um ihre Schultern und ihren Nacken.
Chyna trat tiefer in den Raum. Zu ihrer Furcht gesellte sich nun eine wachsende Besorgnis, die ihr Herz zu vergrößern, es gleichzeitig aber kalt und leer zu lassen schien. Als sie den schwachen Geruch von vergossenem Sperma wahrnahm, wurden ihre Furcht und Besorgnis von Zorn verdrängt. Als sie neben dem Bett stehenblieb, hatte sie die Hände so heftig zu Fäusten geballt, daß ihre Fingernägel schmerzhaft in die Ballen drückten.
Schweißfeuchtes blondes Haar klebte in Lauras Gesicht. Ihre feinen Züge waren weiß wie Salz und vor Angst verkrampft, und ihre Augen waren fest geschlossen.
Sie war nicht tot. Nicht tot. Das war unglaublich.
Das Mädchen – das Entsetzen hatte sie von der Frau zum Mädchen schrumpfen lassen – murmelte so leise vor sich hin, daß Chyna die Worte nicht einmal aus ein paar Zentimetern Entfernung verstehen konnte. Zugleich waren sie so dringlich, daß ihre Bedeutung entsetzlich klar war. Es war ein Gebet, eins, das Chyna vor langer Zeit an weit entfernten Orten oft genug gesprochen hatte: ein Gebet um Gnade, die Bitte, diesen Horror unberührt und lebend zu überstehen, lieber Gott, bitte, unberührt und lebend.
Damals war Chyna sowohl die Vergewaltigung als auch der Tod erspart geblieben. Doch die Hälfte von Lauras Bitte war bereits ungehört geblieben.
Chynas Kehle zog sich vor Schmerz zusammen, und sie konnte kaum sprechen: »Ich bin’s.«
Lauras Lider sprangen auf, und ihre blauen, vor Unglauben weit aufgerissenen Augen verdrehten sich wie die eines panischen Pferdes. »Alle tot.«
»Psst«, flüsterte Chyna.
»Blut. Seine Hände.«
»Psst. Ich hol’ dich hier raus.«
»Er stank nach Blut. Jack ist tot. Nina. Alle.«
Jack, ihr Bruder, den Chyna nicht kennengelernt hatte. Nina, ihre Schwägerin. Offenbar war der Mörder im VerwalterBungalow gewesen, bevor er zum Haupthaus gekommen war.
Vier Tote. Auf dem weitläufigen Besitz würde sie nirgendwo Hilfe finden.
Chyna warf einen besorgten Blick zur offenen Tür und überprüfte dann schnell die Handschellen an Lauras Gelenken. Sie waren verschlossen.
Mit gefesselten Händen und Füßen war Laura völlig bewegungsunfähig, zumal die Handschellen noch durch eine Kette miteinander verbunden waren. Sie konnte nicht stehen, geschweige denn laufen.
Chyna war nicht stark genug, um sie zu tragen.
Sie sah ihr Bild im Spiegel der Kommode auf der anderen Seite des Raums und erkannte schockiert, wie unverhüllt ihr Entsetzen sich in ihrem verzerrten Gesicht spiegelte. Um Lauras willen versuchte sie, sich etwas gefaßter zu geben. Sie trat wieder neben das Bett und fragte fast so leise, wie ihre Freundin gebetet hatte: »Habt ihr eine Waffe?«
»Was?«
»Ist eine Pistole im Haus?«
»Nein.«
»Nirgendwo im Haus?«
»Nein, nein.«
»Scheiße.«
»Jack.«
»Was?«
»Hat eine.«
»Eine Pistole? Im Bungalow?« fragte Chyna.
»Jack hat eine Pistole.«
Chyna hatte keine Zeit, zum Bungalow und wieder zurückzulaufen, bevor der Mörder in Lauras Zimmer zurückkehrte.
Überdies mußte sie davon ausgehen, daß er die Waffe bereits gefunden und an sich genommen hatte.
»Weißt du, wo er ist?«
»Nein.« Lauras himmelblaue Augen schienen sich vor Verzweiflung zu verdunkeln. »Verschwinde.«
»Ich werde schon eine Waffe finden.«
»Hau ab«, flüsterte Laura eindringlicher, und kalter Schweiß
funkelte auf ihrer Stirn.
»Ein Messer«, sagte Chyna.
»Stirb nicht für mich.« Dann sagte sie mit gedämpfter Stimme, zitternd, aber entschlossen: »Lauf, Chyna. O Gott, bitte
lauf .«
»Ich werde zurückkommen.«
»Lauf.«
Draußen erklang ein Geräusch. Der Motor eines Fahrzeugs.
Es kam näher.
Erstaunt sprang Chyna auf. »Jemand kommt. Hilfe kommt.« Lauras Zimmer lag an der Vorderseite des Hauses. Chyna trat zu einem der beiden Fenster und blickte auf die fast einen Kilometer lange Auffahrt, die von der zweispurigen Landstraße zum Haus führte.
Einen halben Kilometer entfernt durchstachen helle Scheinwerfer die Nacht. Der Höhe der Lichter über dem Boden nach zu urteilen, mußte es sich um ein großes Fahrzeug handeln. Es war wie ein Wunder, daß jemand zu dieser Stunde an diesem einsamen Ort auftauchte.
Noch während
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