Intensity
Chyna ein Prickeln der Hoffnung durchlief, wurde ihr klar, daß auch der Mörder das Fahrzeug gehört haben mußte. Der Mann oder die Männer in dem Wagen hatten keine Ahnung, welche Schwierigkeiten sie sich einbrockten.
Wenn sie vor dem Haus hielten, waren sie schon so gut wie tot. »Halt durch«, sagte sie, berührte Lauras feuchte Stirn, um sie zu beruhigen, ging dann durch den Raum zur Tür und ließ ihre Freundin unter dem selbstgefälligen und ernsten Blick Sigmund Freuds zurück.
Der Flur war verlassen.
Chyna eilte zum oberen Ende der gebogenen Treppe und zögerte kurz, in die Finsternis einzutauchen. Doch ihr war klar, daß sie keine andere Wahl hatte. Sie ging so schnell hinab, wie sie es wagte, ohne sich am Geländer festzuhalten. Sie hielt sich von der Balustrade fern. Dort war sie zu ungeschützt. Dicht an der Wand, das war besser.
Sie ging schnell an einer Reihe großer Landschaftsgemälde in Zierrahmen vorbei, die ihr fast wie Fenster zu tatsächlich existierenden pastoralen Welten vorkamen. Früher waren es helle und fröhliche Szenen gewesen. Jetzt waren sie beunruhigend: Wälder mit Kobolden, schwarze Flüsse, Schlachtfelder. Die Diele. Ein ovaler Teppich auf Eichenparkett. Hinter einer geschlossenen Tür zur Rechten befand sich Paul Templetons Arbeitszimmer. Durch den gewölbten Durchbruch zur Linken konnte man das dunkle Wohnzimmer betreten.
Der Mörder konnte überall sein.
Draußen wurde das Dröhnen des Fahrzeugs lauter. Es hatte das Haus fast erreicht. In dem Augenblick, da der Fahrer auf die Bremse trat, um den Wagen anzuhalten, würde er durch die Windschutzscheibe erschossen werden. Oder spätestens, wenn er das Führerhaus verließ.
Chyna mußte ihn warnen, nicht nur um seinet-, sondern auch um ihretwegen, um Lauras willen. Er war ihre einzige Hoffnung.
Überzeugt, daß der spinnenessende Eindringling in der Nähe war, erwartete sie einen wütenden Angriff und flog förmlich, ohne jede Vorsicht, zur Haustür. Der ovale Teppich rutschte unter ihren Füßen hoch, drehte sich und wäre fast unter ihr hinweggeglitten. Sie stolperte, streckte die Arme aus, um ihren Sturz zu bremsen, und schlug mit beiden Handflächen gegen die Haustür.
Dieses Geräusch, dieses höllische Geräusch, das durch das gesamte Haus dröhnte, hatte die Aufmerksamkeit des Mörders bestimmt von dem sich nähernden Fahrzeug abgelenkt. Chyna tastete herum, fand den Türknopf und drehte ihn. Die Tür war unverschlossen. Keuchend zog sie sie auf.
Eine kühle Brise aus dem Nordwesten, die schwach nach frisch umgegrabener Weinbergerde und Fungiziden roch, pfiff durch die kahlen Äste der Ahornbäume, die den vorderen Fußweg zum Haus flankierten. Mit einem Geräusch, das an das Schnüffeln eines Rudels Hunde erinnerte, strömte sie an ihr vorbei in die Diele, als sie auf die Veranda hinaustrat. Der Lastwagen war bereits am Haus vorbeigefahren und entfernte sich von ihr. Er würde auf dem Wendehammer am Ende der Auffahrt drehen, der breit genug war, um in der Erntezeit auch von Lastern benutzt zu werden, und dann mit der Schnauze zur Landstraße abgestellt werden. Aber es war gar kein Lastwagen. Sondern ein Wohnmobil. Ein älteres Modell mit abgerundeten Konturen, gut erhalten, zwölf Meter lang, entweder blau oder grün. Sein Chrom schimmerte wie Quecksilber unter dem Spätwintermond.
Erstaunt darüber, daß sie noch nicht von hinten erschossen, erstochen oder niedergeschlagen worden war, warf Chyna einen Blick zur geöffneten Eingangstür zurück, in der der Mörder noch immer nicht aufgetaucht war, und lief zur Verandatreppe.
Das Wohnmobil hatte das Ende des Wendehammers erreicht und fuhr wieder auf sie zu. Die Scheinwerferstrahlen glitten über die Scheune und weitere Nebengebäude der TempletonFarm.
Die Schatten von Ahorn- und Nadelbäumen flohen vor den wandernden Scheinwerferstrahlen. Sie flackerten dunkel durch das Spalier am Ende der Veranda, die weiße Balustrade entlang, über den Rasen und den Plattenweg, streckten sich gespenstisch und stießen in die Nacht vor, als versuchten sie hektisch, sich von den Bäumen zu befreien, die sie hervorriefen. Die tiefe Stille im Haus, der Umstand, daß im Erdgeschoß kein Licht brannte, daß der Mörder sie nicht angegriffen hatte, als sie das Haus verließ, die Ankunft des Wohnmobils ausgerechnet zu dieser Zeit – plötzlich ergaben all diese Umstände einen Sinn, der sie erschaudern ließ. Der Mörder fuhr das Wohnmobil.
»Nein.«
Chyna zog sich schnell von
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