Intensity
die Straße vor dem sintflutartigen Regen abschirmte.
Auf dieser schmalen, gewundenen Straße war es nicht möglich, die Geschwindigkeit beizubehalten, die sie auf dem Highway 101 gehabt hatten. Außerdem schien der Mörder zur Auffassung gelangt zu sein, daß er nicht mehr so auf die Tube drücken mußte, vielleicht, weil er sich inzwischen ausreichend weit von den Toten in der Tankstelle entfernt hatte. Als Chyna ihn kaum eine Minute später einholte, fuhr er jedenfalls deutlich unterhalb der erlaubten Höchstgeschwindigkeit.
Als sie dem Wohnmobil nun näher war als je zuvor, fiel ihr auf, daß es keine Nummernschilder hatte. Kalifornien gab – wie wohl auch einige andere Staaten – keine provisorischen Schilder für neu angemeldete Fahrzeuge aus, und es war darum auch legal, »ohne« zu fahren, bis einem das Straßenverkehrsamt die Schilder zugestellt hatte. Vielleicht hatte der Mörder sie abgeschraubt, bevor er zum Haus der Templetons aufgebrochen war, um zu vermeiden, daß ein Zeuge mit gutem Gedächtnis sich das Kennzeichen einprägte.
Chyna nahm den Fuß vom Gaspedal, warf einen Blick auf den Tachometer – und sah eine rote Warnleuchte. Die Nadel der Benzinuhr stand auf Reserve.
Da sie sich auf das Wohnmobil und die gefährlich nasse Fahrbahn konzentriert hatte, konnte sie nicht sagen, seit wann die Warnlampe brannte. Es mochten noch drei oder fünf Liter im Tank sein – oder vielleicht nur noch ein paar Tropfen.
Damit war ihr Plan, den Mörder bis zu seinem Wohnort zu verfolgen, geplatzt.
Die Bedeutung der Mammutbäume liegt nicht in Größe, Schönheit, Frieden oder der Zeitlosigkeit der Natur. Mammutbäume bedeuten Macht.
Edgler Vess dreht während des Fahrens die Fensterscheibe neben sich herunter und atmet tief die kalte Luft ein, die schwer vom Duft der Mammutbäume ist, einem Machtgeruch. Diese Macht fließt mit dem Duft in ihn hinein, und seine Macht wird auf diese Weise größer.
Mammutbäume sind Macht, weil ihre Größe von keinem anderen Baum auch nur annähernd erreicht wird, weil sie uralt werden – viele der Exemplare links und rechts der Straße sind Jahrhunderte vor der Geburt Jesu Christi ausgekeimt – und weil ihre außergewöhnlich dicke, tanninreiche Rinde sie wie ein Panzer fast perfekt vor Insekten, Krankheiten und Feuer schützt. Sie sind Macht, weil sie überdauern, während alles um sie herum stirbt; Menschen und Tiere schreiten an ihnen vorüber ins Jenseits; Vögel lassen sich auf ihren hohen Ästen nieder und wirken viel freier als alles, was in Fels und Erde wurzelt, doch irgendwann setzt ihr kleines Herz plötzlich aus, ihnen schwinden die Sinne, sie stürzen aus dem dichten Geäst oder fallen direkt aus dem freien Flug auf den Boden, und der Baum wächst immer noch; auf dem schattigen Boden der Wälder schlagen lichtscheue Farne und Rhododendren Jahr um Jahr im Frühling aus, doch letztlich ist auch ihre Unsterblichkeit Illusion, denn auch sie sterben, und neue Generationen ihrer Spezies erheben sich aus den verfaulenden Überresten der alten. Jesus, der Friedensfürst, Prophet des Lebens, starb, so heißt es, an einem Kreuz aus Blutweide, und während seines ganzen Lebens habe kein Sturm auch nur einen dieser Bäume entwurzeln können. Obwohl sie nichts um Frieden geben und nichts von Liebe wissen, haben sie überdauert. Der Tod fährt unablässig seine Ernten ein und wirft wilde Schatten in der Säulenhalle aus stoischen Mammutbäumen, ein unaufhörliches Flackern, das zwischen den gewaltigen Stämmen tanzt wie das dunkle Gegenbild heiteren Feuerscheins im Herd, und sein Treiben hat auf diese Bäume keinerlei Effekt.
Macht heißt: leben, während andere unausweichlich umkommen. Macht heißt, gegen das Leid anderer gleichgültig zu bleiben. Macht heißt, Nahrung aus dem Tod anderer zu ziehen, so wie die mächtigen Mammutbäume sich von dem immerwährenden Zerfall dessen ernähren, was einst um sie herum gelebt hat, kurz gelebt hat. Auch das ist Teil der Philosophie von Edgler Foreman Vess.
Durch das offene Fenster atmet er den Geruch der Mammutbäume ein, und die Moleküle ihrer Duftstoffe haften sich an die Zelloberflächen seiner Lungenbläschen, und auf diese Weise wird die Macht von Jahrtausenden in sein mit Sauerstoff angereichertes Blut getragen, erreicht jede Extremität und erfüllt ihn mit Kraft und Energie.
Macht ist Gott, Gott ist Natur, Natur ist Macht, und die Macht ist in ihm.
Seine Macht nimmt ständig zu.
Wäre er gläubig, so wäre er ein
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