Intensity
leidenschaftlicher Pantheist, der Ansicht verpflichtet, daß alle Dinge heilig sind, jeder Baum und jede Blume und jeder Grashalm, jeder Vogel und jeder Käfer. Die Welt ist heutzutage voller Atheisten; auch bei ihnen würde er sich weltanschaulich zu Hause fühlen. Wenn alles heilig ist, ist nichts heilig. Das ist für ihn die Schönheit des Pantheismus. Wenn das Leben eines Kindes genauso viel wert ist wie das eines Sonnenfisches oder einer Schleiereule, dann kann Vess attraktive kleine Mädchen mit derselben Selbstverständlichkeit töten, mit der er einen Skorpion unter seinem Stiefel zerquetscht, ohne größere Skrupel, aber mit beträchtlich größerem Vergnügen.
Aber er glaubt an nichts.
Als sich nach einer Kurve eine lange gerade Strecke auftut, die von den größten Mammutbäumen gesäumt ist, die er je gesehen hat, krachen scharf umrissene Blitze wie weiße Knochen durch die schwarze Haut des Himmels. Ein gewaltiger Donnerschlag, der wie wütendes Bellen klingt, läßt die Luft erzittern.
Der Regen spült den Geruch des Blitzes durch die Nacht hinab. Nun bieten sich ihm zwei Duftnoten der Macht dar, Blitze und Mammutbäume – Elektrizität und Zeit, starke Hitze und Widerstandskraft –, und entzückt atmet er tief ein.
Der Umweg über diese Landstraße, die zwischen den Mammutbäumen an der Küste entlangführt und südlich von Eureka wieder auf den Highway 101 stößt, wird seine Fahrtzeit um etwa eine halbe bis ganze Stunde verlängern, je nach seiner Fahrgeschwindigkeit und der Stärke des Sturms. So sehr es ihn auch nach Hause und zu Ariel hinzieht, der Macht der Mammutbäume hat er nicht widerstehen können.
Scheinwerfer tauchen hinter ihm auf; er sieht sie im Seitenspiegel. Ein Wagen. Fast eine Stunde lang ist ihm auf dem Highway jemand gefolgt, stets einen gewissen Abstand haltend. Das hier muß ein anderes Fahrzeug sein: Dieser Fahrer ist aggressiver und schließt mit hoher Geschwindigkeit zu ihm auf.
Leichtsinnig schert der Honda auf die Gegenfahrspur aus, um an dem Wohnmobil vorbeizuziehen, obwohl hier Überholverbot herrscht. Es gibt keinen Gegenverkehr, und sie befinden sich auf einem langen geraden Stück Straße, aber der Honda ist nicht schnell genug, um das Manöver vor der nächsten Kurve abzuschließen, besonders nicht auf dieser regennassen, unberechenbaren Fahrbahn.
Vess reduziert die Geschwindigkeit.
Der rasende Honda zieht neben ihn.
Vess schaut durch die Windschutzscheibe des Wagens, kann die Person hinter dem Lenkrad jedoch nicht richtig ausmachen, da der Regen und die mit voller Kraft arbeitenden Scheibenwischer seine Sicht behindern. Nichts weiter als die Andeutung eines dunkelroten Hemds oder Pullis. Eine bleiche Hand auf dem Lenkrad. Das Gelenk ist so zart, daß höchstwahrscheinlich eine Frau am Steuer sitzt. Sie scheint allein im Wagen zu sein. Dann zieht der Wagen ein Stück weiter vor, und Vess schaut auf das Dach und kann die Windschutzscheibe nicht mehr sehen.
Sie nähern sich schnell der Kurve.
Vess nimmt die Geschwindigkeit weiter zurück.
Durch das offene Fenster hört er, wie der Honda aufheult, als die Fahrerin beschleunigt. Die beträchtliche Kraft des Motors kommt ihm angesichts des majestätischen Waldes erbärmlich schwach vor, wie das wütende Summen einer Stechmücke inmitten einer Elefantenherde.
Es würde Vess keinerlei Anstrengung kosten, seinen Herzschlag kein bißchen beschleunigen, das Lenkrad nach links zu reißen, das Wohnmobil gegen den Honda zu knallen und ihn von der Straße zu drängen. Der kleine Wagen würde sich entweder überschlagen und dann explodieren oder frontal gegen einen der sechs Meter durchmessenden Baumstämme prallen.
Er spürt die Versuchung.
Das Schauspiel wäre spektakulär.
Er verschont die Frau in dem Honda lediglich, weil er gerade auf subtilere Erfahrungen aus ist; ein solcher Lärm würde die Stimmung zerstören. Diese befriedigende Expedition hat ihm nicht nur, wie ursprünglich geplant, die Auslöschung der Familie im Napa Valley eingebracht, sondern auch den Anhalter, der nun im Schlafzimmer hängt wie Poes AmontilladoLiebhaber in der Steinwand eines Weinkellers, und die beiden Angestellten der Tankstelle. Das ist bereits ein bunter Reigen. Das Riff der Seele setzt sich aus unterschiedlichen Erfahrungen zusammen und nicht aus eintönigen Wiederholungen. Im Augenblick verlangt es ihn nicht nach der ernsten Musik des Blutes und nicht nach der flüchtigen Wärme der Schreie; statt dessen muß er jetzt die
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