Intensity
Menschen weit bringen.
Er lächelt dem Wald zu.
Das Wohnmobil stand auf der Straße, etwa sechs Meter von dem Honda entfernt, und wirkte nun, im Vergleich zu den Mammutbäumen, viel kleiner.
Als der Mörder im Licht der Scheinwerfer des Wohnmobils die Straße zu dem verlassenen Wagen entlanggegangen war, war Chyna durch den dunklen Wald gekrochen, parallel zu ihm, aber in die entgegengesetzte Richtung. Sie hatte sich hinter den Baum rechts von ihr geduckt und den Revolver in die rechte Hand genommen, während sie die linke flach gegen den Baumstamm drückte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, falls sie über eine Wurzel oder ein anderes Hindernis stolpern sollte. Unter der Handfläche hatte sie das Muster der tiefen Risse in der dicken Rinde gespürt: endlose Reihen gotischer Bögen. Mit jedem unsicheren Schritt, den sie um diese große Säule getan hatte, war ihr stärker bewußt geworden, daß dieser Baum weniger eine Pflanze als vielmehr ein Gebäude war, eine fensterlose Festung, die dem geballten Zorn der Welt standhalten konnte.
Nachdem sie den Baum halb umrundet hatte und in der schulterbreiten Lücke zwischen ihm und seinem nächsten Nachbarn stand, spähte sie erneut hinaus. Der Mörder stand neben der geöffneten Tür des Honda und schaute in den Wald auf der anderen Seite des Highway.
Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun, ein anderer Autofahrer könne vorbeikommen, bevor sie ihren Plan ausführen konnte.
Sie ging weiter, umkreiste den nächsten Baum. Er war noch größer als der Gigant nebenan. Die Rinde bot die vertrauten gotischen Muster.
Trotz des schneidenden Winds, der hoch über ihr schrillte und einen leichten Sprühregen von den kaum auszumachenden Ästen fegte, kam der Wald ihr wie ein guter, sicherer Ort vor, dunkel, aber nicht im Geiste, kalt, aber nicht unwirtlich. Sie war mit ihren Problemen noch immer allein – aber seltsamerweise fühlte sie sich zum erstenmal in dieser Nacht nicht allein.
Als Chyna die nächste Lücke in der Palisade des Waldes erreichte, schaute sie wieder hinaus und sah, daß der Mörder in den Honda stieg. Da kein Platz war, mit dem Wohnmobil um den beschädigten Wagen herumzufahren, mußte er ihn aus dem Weg schaffen.
Sie warf einen Blick auf das Wohnmobil. Vielleicht, weil sie wußte, was sich darin befand – ein Toter in Ketten in einem Schrank, ein in ein weißes Leichentuch gehüllter Körper –, kam ihr das Fahrzeug so bedrohlich wie ein Panzer vor.
Sie konnte einfach hier in diesem Wald warten. Ihren Plan vergessen. Er würde fahren, und das Leben würde weitergehen.
Es war so leicht, einfach zu warten. Zu überleben.
Die Polizei würde das Mädchen finden. Ariel. Irgendwie. Rechtzeitig. Ohne ihre Heldentat.
Chyna lehnte sich gegen den Baum. Plötzlich war sie ganz schwach. Schwach und zittrig. Sie zitterte, und ihr wurde fast schlecht vor Verzweiflung, vor Furcht.
Die Rücklichter und die Innenbeleuchtung des Honda verdunkelten sich, als der Anlasser knirschte und der Mörder versuchte, den Motor zu starten.
Dann vernahm Chyna ein anderes Geräusch. Viel näher als der Wagen. Hinter ihr. Ein Rascheln, ein Knacken, ein sanftes Schnauben, als würde ein erschrockenes Pferd ausatmen. Verängstigt drehte sie sich um.
Im diffusen Licht des Wohnmobils auf dem Highway sah Chyna im Wald der Mammutbäume Engel. Den Anschein hatte es jedenfalls einen Augenblick lang. Sanfte Gesichter musterten sie, bleich in der Dunkelheit, mit leuchtenden, fragenden und freundlichen Augen.
Doch selbst in diesem schwachen Schein, schwach wie Mondlicht, konnte sie die Hoffnung auf Engel nicht lange aufrechterhalten. Nach einer kurzen anfänglichen Verwirrung wurde ihr klar, daß es sich bei diesen Geschöpfen um eine Gruppe Küstenelche ohne Geweihe handelte.
Sechs standen nebeneinander auf einer fünf Meter breiten freien Fläche zwischen dieser Baumreihe und der nächsten, so nah, daß Chyna mit drei Schritten bei ihnen hätte sein können. Sie hatten die Köpfe vornehm erhoben, die Ohren gespitzt, die Blicke eindringlich auf sie gerichtet.
Die Elche waren neugierig, und wenn sie auch von Natur aus scheu waren, so schienen sie doch vor ihr keine Angst zu haben.
Einmal hatten sie und ihre Mutter zwei Monate lang auf einer Ranch im Mendocino County gewohnt, auf der eine Gruppe gut bewaffneter Milizionäre auf einen Rassenkrieg wartete, von dem sie glaubte, er werde die Nation bald in den Untergang reißen, und in dieser Atmosphäre des Jüngsten Tags
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