Intensity
ein anderer Autofahrer aus entgegengesetzter Richtung vorbeigekommen und hat die Verletzte mitgenommen, um sie in ein Krankenhaus zu bringen. Aber das kommt ihm nicht sehr wahrscheinlich vor; da wäre zu viel Zufall im Spiel. Schließlich kann der Unfall sich ja erst vor ein, zwei Minuten ereignet haben.
Die Fahrertür steht offen, und als Vess sich in den Wagen beugt, sieht er, daß der Zündschlüssel steckt. Die Scheibenwischer fegen über das Glas. Die Rücklichter, die Innenbeleuchtung und die Anzeiger im Armaturenbrett sind allesamt erhellt.
Er tritt vom Wagen zurück und sieht sich den Baum an, zu dem die Reifenspuren führen. Der Aufprall hat die Rinde nur oberflächlich angekratzt.
Gespannt sucht er den Rest des Waldes auf dieser Seite des Highway ab.
Es ist gut möglich, daß die Fahrerin beim Aufprall eine Gehirnerschütterung erlitten hat, aus dem beschädigten Wagen gestiegen und in den Wald gelaufen ist. Vielleicht irrt sie in diesem Augenblick völlig verwirrt immer tiefer in den Naturschutzpark hinein – oder sie ist aufgrund ihrer Verletzungen zusammengebrochen und liegt jetzt bewußtlos in einem Farndickicht.
Die dicht stehenden Bäume bilden ein Labyrinth schmaler Korridore; hier gibt es mehr Wald als offene Flächen. Selbst um die Mittagszeit an einem wolkenlosen Tag dringt das Sonnenlicht nur vereinzelt in dünnen Fäden zum Waldboden durch, und der Großteil dieses ausgedehnten Waldgebiets ist in ewige, undurchdringliche Finsternis getaucht, als habe jede der vielen hunderttausend Nächte, die sich seit dem Auskeimen der Bäume auf sie hinabgesenkt haben, einen dunklen Film hinterlassen. Nun, zwischen Geisterstunde und Dämmerung, ist diese Schwärze so rein, daß sie fast zu leben scheint: ein geducktes Wesen, das auf Beute lauert und jeden Eindringling listig in sich hineinlockt.
Diese eigentümliche Dunkelheit weckt Mr. Vess’ Phantasie und verheißt ihm Erfahrungen, von denen er spürt, daß sie ihm offenstehen, auch wenn sie seine Vorstellungskraft noch übersteigen, geheimnisvolle Erfahrungen, die einen Menschen von Grund auf verändern können … Er hat nicht die leiseste Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte. Tief im Reich der Mammutbäume, in Korridoren aus rissiger Rinde, in einer geheimen Zitadelle tierhafter Leidenschaft, dort, wo das lauernde Dunkel älter ist als die menschliche Zivilisation, dort erwartet ihn ein mystisches Abenteuer.
Sollte die Frau in der Tat durch den Wald wandern, könnte er das Wohnmobil ordnungsgemäß parken und nach ihr suchen. Vielleicht ist das Messer, das er bei der Tankstelle gefunden hat, doch ein Omen, und es ist ihm bestimmt, diese Klinge mit ihrem Blut zu benetzen.
Er stellt sich vor, wie es wäre, seine Kleidung abzulegen und den Wald nackt mit dem Messer in der Hand zu betreten, sich völlig auf seine primitiven Instinkte zu verlassen, um sie aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. Regen und Nebel kalt auf seiner Haut. Dampfende Atemluft, die seine Wärme der Nacht vermacht. Die Kälte der Nacht kann ihm nichts anhaben. Er wird die Frau auf den Waldboden zerren und ihre Kleidung mühelos in Fetzen reißen. Die Phantasie hat ihn bereits erregt, und er fragt sich, ob er sie zuerst mit dem Messer oder dem Phallus angreifen soll – oder vielleicht mit seinen Zähnen. Diese Entscheidung wird er im Augenblick ihrer Gefangennahme treffen müssen, und viel hängt davon ab, wie attraktiv sie ist. Aber er ist überzeugt, daß das, was zwischen ihnen geschehen wird, was auch immer es sei, beispiellos und magisch sein wird – vor allem: unbeschreiblich intensiv.
Doch in etwa einer Stunde wird die Dämmerung anbrechen, und er wäre gut beraten, dann wieder unterwegs zu sein. Er muß noch mehr Abstand zwischen sich und die Orte bringen, an denen er sich in dieser Nacht vergnügt hat.
Das Geheimnis von Edgler Vess’ Erfolg liegt zum Teil in seiner Fähigkeit, seine inbrünstigsten Leidenschaften zu unterdrücken, wenn es zu gefährlich wäre, ihnen nachzugeben. Würde er jedes Verlangen augenblicklich befriedigen, wäre er mehr Tier als Mensch – und entweder schon lange tot oder im Gefängnis. Edgler Vess zu sein bedeutet, frei, aber nicht unbesonnen zu sein, schnell, aber nicht impulsiv. Er muß sich den Sinn für das richtige Verhältnis bewahren. Und gutes Timing. Verdammt, er braucht das Timing eines erstklassigen Steptänzers. Und ein nettes Lächeln. Ein wirklich nettes Lächeln kann im Verbund mit Selbstbeherrschung einen
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