Intensity
hatte ihr in all diesen langen Jahren je geholfen?
Ihr fiel ein, daß sie zweimal kurz angehalten hatten – dabei war sie wach geworden –, und sie vermutete, daß das Wohnmobil durch ein Tor gefahren war. Aber auch wenn es sich tatsächlich um eine private Auffahrt handelte, würde sie früher oder später zu einer öffentlichen Straße führen, wo ihr Anwohner oder vorbeikommende Autofahrer Beistand leisten konnten.
Die Kuppe des Hügels lag etwa vierhundert Meter vom Haus entfernt. Damit mußte sie eine beträchtliche offene Strecke zurücklegen, bevor sie außer Sichtweite war. Sollte er sie sehen, würde er sie wahrscheinlich einholen können, bevor sie die Straße erreichte.
Und sie wußte noch immer nicht genau, ob es sich tatsächlich um sein Haus handelte. Und selbst, wenn es sein Haus war, konnte sie nicht unbedingt davon ausgehen, daß er Ariel hier festhielt. Falls Chyna die Behörden alarmierte und Ariel nicht hier versteckt war, würde der Mörder ihnen vielleicht nie verraten, wo sie das Mädchen finden konnten.
Sie mußte sich überzeugen, daß Ariel im Keller war.
Aber falls das Mädchen tatsächlich hier war, würde der Mörder sich vielleicht im Haus verbarrikadieren, wenn Chyna mit der Polizei zurückkam. Man würde eine Spezialeinheit einsetzen müssen, um ihn herauszuholen – und bevor das gelang, würde er Ariel vielleicht töten und dann Selbstmord begehen.
So würde es sich wohl auf jeden Fall abspielen, sobald hier Cops auftauchten. Er würde wissen, daß seine Zeit der Freiheit und seine Spielchen vorüber waren, er keinen Spaß mehr haben könnte, und nur noch einen letzten Ausweg sehen, eine apokalyptische Feier seines Wahnsinns.
Chyna konnte es nicht ertragen, dieses gefährdete Mädchen zu verlieren, nachdem sie gerade erst Laura verloren hatte. Das war nicht auszuhalten. Sie durfte die Menschen nicht im Stich lassen, wie man sie ihrerseits das ganze Leben lang im Stich gelassen hatte. Der Sinn lag nicht in Psychologiekursen und -lehrbüchern, sondern in der Fürsorge, der Selbstaufopferung, im Vertrauen, der Tat . Sie wollte diese Risiken nicht eingehen. Sie wollte leben – aber nicht für sich selbst, sondern für einen anderen Menschen.
Wenigstens hatte sie jetzt den Revolver.
Und den Vorteil der Überraschung.
Zuvor, im Haus der Templetons, im Wohnmobil und dann in der Tankstelle, hatte sie zwar das Überraschungsmoment auf ihrer Seite gehabt, aber keine Schußwaffe.
Ihr wurde klar, daß sie sich selbst überredete, den gefährlichsten Weg einzuschlagen, der ihr offenstand, und Ausreden suchte, um in das Haus einzudringen. Es war völlig verrückt, in dieses Haus zu gehen, Gott im Himmel, ein offensichtlich verrückter Schachzug, aber sie bemühte sich, eine Scheinbegründung dafür zu finden, denn sie hatte sich bereits entschlossen, genau das zu tun.
Als die Frau aus dem Wohnmobil kommt, hält sie eine Schußwaffe in der rechten Hand. Dem Aussehen nach könnte es sich um eine .38er handeln – vielleicht um eine Chief’s Special.
Diese Waffe ist bei Polizisten sehr beliebt. Aber diese Frau bewegt sich nicht wie eine Polizistin, hält die Waffe nicht so, wie eine Polizistin es tun würde – obwohl sie eindeutig damit umzugehen versteht.
Nein, sie ist keine Gesetzeshüterin. Etwas anderes. Etwas Bizarres.
Mr. Vess war noch nie von jemandem so fasziniert wie von dieser mutigen kleinen Lady, dieser geheimnisvollen Abenteurerin. Sie ist eine richtige Wohltat.
In dem Augenblick, da sie vom Wohnmobil zum Haus und damit außer Sicht spurtet, tritt Vess vom Fenster in der Südwand seines Schlafzimmers zu dem in der Ostwand. Es wird ebenfalls von einem blauen Vorhang bedeckt, den er nun öffnet.
Keine Spur von ihr.
Er wartet, hält den Atem an, aber sie spurtet nicht in östliche Richtung, die Auffahrt entlang. Nach etwa einer halben Minute weiß er, daß sie nicht davonlaufen wird.
Wäre sie abgehauen, hätte sie ihn zutiefst enttäuscht. Er hält sie nicht für eine Person, die einfach davonläuft. Sie ist tapfer. Er will, daß sie mutig ist.
Wäre sie davongelaufen, hätte er ihr die Hunde hinterhergeschickt, nicht um sie zu töten, sondern lediglich um sie aufzuhalten. Dann hätte er sie zurückgeholt, um sie in aller Ruhe zu verhören.
Aber sie kommt zu ihm . Aus welchen unvorstellbaren Gründen auch immer, sie wird ihm ins Haus folgen. Mit ihrem Revolver.
Er muß vorsichtig sein. Aber was für einen Spaß er hat! Ihre Waffe läßt das Spiel lediglich
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