Intensity
Erniedrigung noch besser geeignet war, Furcht zu zügeln. Daß sie sich nicht hatte wehren können und nun gefesselt hier saß – das war nicht die Quelle ihrer Erniedrigung; viel mehr beschämte sie ihre Unfähigkeit, das Versprechen zu erfüllen, das sie dem Mädchen in dem Keller gegeben hatte.
Ich bin dein Schutzengel. Ich lasse nicht zu, daß dir etwas passiert.
Sie kehrte in der Erinnerung immer wieder in den gepolsterten Vorraum und zu der Sichtluke in der inneren Tür zurück. Das Mädchen, das inmitten der Puppen saß, hatte nicht gezeigt, daß es das Versprechen gehört hatte. Doch Chyna war ganz krank vor Sorge, daß sie falsche Hoffnungen geweckt hatte, daß das Mädchen sich mehr denn je verraten und verkauft fühlen und sich noch tiefer in ihr privates Anderswo zurückziehen würde.
Ich bin dein Schutzengel.
In der Rückschau kam Chyna ihre Arroganz nicht nur erstaunlich, sondern pervers und größenwahnsinnig vor. Sie war keine Heldin, keine dieser Gestalten aus den KriminalromanSerien, die durch einen kleinen Spritzer Furchtsamkeit und ein paar sympathische Charakterschwächen besonders lebensecht wirkten, aber ansonsten die Kombinationsgabe von Sherlock Holmes und den Kampfgeist von James Bond in sich vereinigten. Am Leben zu bleiben, geistig gesund und emotional unbeschadet – das war schon Kampf genug für sie gewesen. Sie war noch immer ein Mädchen, das sich verirrt hatte und ziellos durch die Jahre stolperte, auf der Suche nach irgendeiner Einsicht oder Lösung, die sich dort draußen wahrscheinlich gar nicht finden ließ, und doch hatte sie an dieser Sichtluke gestanden und Erlösung versprochen.
Ich bin dein Schutzengel.
Sie öffnete die gefalteten Hände. Sie legte sie flach auf den Tisch und ließ sie über das Holz gleiten, als wolle sie Falten in einer Tischdecke glätten, und während sie sich bewegte, rasselten ihre Ketten.
Sie war schließlich keine Kämpferin und niemandes Paladin; sie arbeitete als Kellnerin. Sie war gut in ihrem Beruf, sackte jede Menge Trinkgelder ein, weil sechzehn Jahre in der verdrehten Welt ihrer Mutter ihr beigebracht hatten, daß man sein Überleben unter anderem dadurch sichern konnte, daß man sich bei anderen Menschen einschmeichelte. Zu ihren Kunden war sie unermüdlich charmant, freundlich und hilfsbereit. Die Beziehung zwischen einem Gast in einem Restaurant und einer Kellnerin war ihrer Auffassung zufolge eine ideale Beziehung, weil sie stets kurz und formell war, normalerweise mit einem hohen Maß an Höflichkeit geführt wurde und nicht erforderte, daß man jemandem sein Herz ausschüttete.
Ich bin dein Schutzengel.
In ihrer zwanghaften Entschlossenheit, sich unter allen Umständen zu schützen, war sie zu ihren Kolleginnen zwar stets nett gewesen, hatte sich jedoch nie mit einer angefreundet. Freundschaften beinhalten Verpflichtungen und Risiken. Sie hatte gelernt, sich gegen den Schmerz und Verrat abzuschirmen, die stets mit Bindungen einhergingen.
Im Lauf der Jahre war sie nur mit zwei Männern Beziehungen eingegangen. Sie hatte beide gemocht, den zweiten sogar geliebt, aber die erste Affäre hatte nur elf Monate und die zweite nur dreizehn gedauert. Wenn Beziehungen halten sollten, verlangten Liebhaber mehr als nur einfache Hingabe; man mußte sich ihnen offenbaren, sie am eigenen Leben beteiligen, eine intensive emotionale Verbindung mit ihnen eingehen. Ihr fiel es schwer, viel über ihre Kindheit oder ihre Mutter zu enthüllen, zum Teil, weil ihre völlige Hilflosigkeit während dieser Jahre ihr peinlich war. Noch wichtiger war, daß sie zu der harten Erkenntnis gelangt war, daß ihr Mutter sie niemals wirklich geliebt hatte, vielleicht niemals imstande gewesen war, sie oder einen anderen Menschen zu lieben. Und wie konnte sie erwarten, von einem Mann geliebt zu werden, der wußte, daß nicht einmal ihre Mutter sie geliebt hatte?
Ihr war klar, daß diese Einstellung irrational war, doch diese Erkenntnis befreite sie nicht. Sie verstand, daß sie keine Verantwortung für das trug, was ihre Mutter ihr angetan hatte, doch ganz gleich, was all die Therapeuten in ihren Büchern und Radio-Talkshows behaupteten, Einsicht allein führte nicht zur Heilung. Selbst ein Jahrzehnt, nachdem sie die Kontrolle ihrer Mutter abgeschüttelt hatte, hatte Chyna manchmal das Gefühl, daß all die quälenden Ereignisse dieser dunklen Jahre hätten vermieden werden können, wäre sie, Chyna, nur ein besseres, würdigeres Mädchen gewesen.
Ich bin dein
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