Internat auf Probe
leichten Nieselregen ist ein heftiger Landregen geworden. Es schüttet wie aus Eimern, und die Scheibenwischer müssen sich ordentlich anstrengen. Carlotta kann kaum noch etwas sehen. Als plötzlich ein Schild am Straßenrand auftaucht, spürt sie, wie ihr Herz schneller klopft.
„Europäische Internatsschule Schloss Prinzensee“, steht auf dem Schild. „Herzlich willkommen.“
Langsam rollt Papas Wagen durch eine breite Allee. Das Pflaster ist alt und holprig und die Bäume neigen sich alle zu einer Seite, als würde der Wind hier ständig nur aus einer Richtung wehen.
Carlotta beugt sich nach vorn und späht durch die Windschutzscheibe. Am Ende der Allee taucht ein großes, weißes Gebäude mit einem roten Ziegeldach auf. Es ist total verwinkelt und sieht aus wie ein Schloss mit vielen hohen Fenstern, unzähligen Schornsteinen, einer breiten Treppe und einem blumengeschmückten Balkon. Sogar einen Turm gibt es. Auf seinem Dach weht eine blaue Flagge mit einem gelben Wappen.
Alles in allem sieht es gar nicht so schlimm aus, stellt Carlotta fest. Insgeheim hatte sie es sich nicht so hübsch vorgestellt, sondern mehr wie ein dunkles Gefängnis. Aber von hohen Zäunen, Alarmanlagen und schmiedeeisernen Gittern vor den Fenstern ist weit und breit nichts zu sehen.
Vielleicht verstecken sie das alles auf der Rückseite?, denkt Carlotta misstrauisch. Bestimmt gibt es irgendwo eine Folterkammer. Oder ein finsteres Verlies. Jedes anständige Schloss hat schließlich so was. Wer weiß, wer da vor sich hin modert? Vielleicht die Schüler, denen es im Internat nicht gefallen hat. Oder Kinder, die von ihren Eltern einfach abgegeben und nie wieder abgeholt worden sind. Carlotta läuft eine Gänsehaut über den Rücken.
„Das ist das Wappen von Prinzensee.“ Papa zeigt auf die blaue Fahne und lenkt den Wagen auf einen freien Parkplatz. Er macht den Motor aus und dreht sich zu Carlotta um. „Da wären wir also.“
Carlotta schluckt und spürt einen klitzekleinen Sorgenstein in ihren Magen plumpsen.
Tja, denkt sie, und der Sorgenstein zwickt und grummelt. Da wären wir. Und nun?
Am liebsten würde sie im Auto sitzen bleiben und sofort wieder umkehren, aber da reißt Papa schon die Tür auf und ruft: „Nun komm schon! Du bist doch bestimmt neugierig.“
„Kein bisschen“, murmelt Carlotta und klettert aus dem Auto. „Aber wen interessiert das schon?“
Mit sorgenvoll gerunzelter Stirn stapft sie hinter Papa her. Zum Umkehren ist es eindeutig zu spät.
Klack, klack, klack, machen die hohen Absätze der Schulsekretärin auf dem blank gebohnerten Parkett. Die weiß getünchten Wände und die hohen Gewölbedecken werfen das Klappern laut zurück.
Carlotta hat große Mühe, Frau Müller-Stürzelbach zu folgen. Die Schulsekretärin hat sich bereit erklärt, ihr das Internat zu zeigen, während Papa am Empfang der ehemaligen Internatsschüler in der Aula teilnimmt.
„Im Moment sind natürlich Ferien“, sagt Frau Müller-Stürzelbach über die Schulter hinweg zu Carlotta. „Das Schloss ist normalerweise geschlossen. Heute ist allerdings open house , wegen der Feierlichkeiten.“
Carlotta hat keine Ahnung, was open house bedeutet, aber sie nickt interessiert, während sie hinter der hageren Sekretärin herstolpert und sich neugierig umsieht.
Das Internat ist riesengroß. In der Eingangshalle könnte man glatt Schlittschuh laufen, obwohl das mit Sicherheit verboten ist, und der Flur, durch den sie und Frau Müller-Stürzelbach mit langen Schritten hasten, ist bestimmt ein paar Kilometer lang. Die Gänge sind verwinkelt und sehen alle gleich aus. Wäre sie allein unterwegs, würde sie sich todsicher verlaufen, so viel steht fest.
Frau Müller-Stürzelbach schließt die Tür zu einem Klassenraum auf und lässt Carlotta einen Blick hineinwerfen.
Carlotta staunt über die moderne Einrichtung, die hell und freundlich ist. Der Raum sieht fast gemütlich aus. Ziemlich erstaunlich für ein Klassenzimmer, findet sie.
„Bei uns wird in kleinen Lerngruppen gearbeitet, maximal 20 Schüler pro Klasse“, erklärt Frau Müller-Stürzelbach und zieht die Tür schon wieder zu. „Größere Klassen gibt es nicht. Wissenschaftliche Untersuchungen der letzten Jahre haben bewiesen, dass das Lernen in Kleingruppen wesentlich effektiver ist als der herkömmliche Frontalunterricht. Unser Schulleiter Dr. Brönne ist ein großer Verfechter der individuellen Förderung.“
„Aha“, murmelt Carlotta, ohne einen Schimmer zu haben, was
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