Internat auf Probe
Spaltbreit geöffnet wird und der schwache Schein der Nachtbeleuchtung vom Flur ins Zimmer dringt, sieht sie, dass Manu auf Zehenspitzen hinausschlüpft und die Tür leise hinter sich zuzieht.
„Sofie“, flüstert Carlotta in die Finsternis. „Bist du wach?“
Als sie keine Antwort bekommt, legt sie sich wieder hin und starrt mit weit aufgerissenen Augen an die Decke. Was hat das zu bedeuten? Ob Manus nächtliches Frischluftbedürfnis mit ihrem Essverhalten zusammenhängt? Wer so viel futtert wie Manu, muss sich viel bewegen, ganz klar. Aber mitten in der Nacht?
„Unmöglich“, murmelt Carlotta und kuschelt sich wieder in ihr Kissen.
Am nächsten Morgen ist Manu nicht wach zu bekommen. Wie ein Stein liegt sie in ihrem Bett und zuckt nicht mal mit der Wimper, als Sofie zuerst die Vorhänge und dann die Fenster aufreißt, um den strahlenden Sonnenschein ins Zimmer zu lassen.
„Willst du nicht frühstücken?“, erkundigt sich Sofie.
„Später“, lautet die gebrummte Antwort.
„Später gibt’s nichts mehr“, mischt Carlotta sich ein. Sie stupst Manu an, aber die wühlt sich nur noch tiefer unter ihre Decke. Nur ihr verstrubbelter roter Haarschopf lugt darunter hervor, und am Fußende der Decke ein Zeh. Carlotta und Sofie gucken sich an. Sofie zuckt mit den Schultern.
„Es hat keinen Zweck, glaub ich“, sagt sie.
Carlotta stimmt ihr zu. Gemeinsam gehen sie aus dem Zimmer, um noch etwas vom Sonntagsfrühstück abzubekommen.
Soll Manu doch sehen, wie sie satt wird.
Sie wollen gerade ihr Geschirr wegstellen, als Manu in den Speisesaal stürmt und über die Reste des schon reichlich abgegrasten Büfetts herfällt. In Windeseile türmt sie einen ansehnlichen Berg auf den Teller.
„Du bist ziemlich spät dran“, murrt die Küchenhilfe, die schon abräumen wollte.
„’tschuldigung“, grinst Manu. „Hab verpennt.“
„Typisch“, zischelt Nadine.
„Halt die Klappe, Barbie“, knurrt Manu zurück.
Die Küchenhilfe schüttelt den Kopf und verschwindet in der Schlossküche.
Japsend lässt sich Manu auf ihren Platz fallen. „Das war knapp, was?“
„Das kann man wohl sagen“, stimmt Carlotta ihr zu. Insgeheim fragt sie sich, ob Manu es tatsächlich schaffen wird, all die Nahrungsmittel auf ihrem Teller zu verdrücken.
Aber so, wie Manu reinhaut, ist es nur eine Frage von wenigen Minuten, bis der Berg abgetragen ist. Mit viel Kakao spült sie hinterher, dann springt sie auf und verkündet, dass sie sich einen Nachschlag holen will.
„Aber das Büfett ist schon geschlossen“, wendet Carlotta ein.
„Dann geh ich eben in die Küche“, gibt Manu ungerührt zurück. „Meine Eltern bezahlen schließlich für Vollpension, da muss ihr Töchterlein doch satt werden, oder?“ Grinsend klopft sie an der Flügeltür zur Küche an und verschwindet dahinter.
Sofie steht auf. „Ich geh ins Musikzimmer, ein bisschen Klavier üben.“
„Ist gut“, nickt Carlotta. „Viel Spaß.“
Weil sie nichts Besonderes vorhat, bleibt sie sitzen und wartet auf Manu.
„Na, hast du noch was bekommen?“, fragt sie die Mitschülerin, als sie wiederkommt.
„Klar“, grinst die und zeigt auf ein dickes Lunchpaket. „Ich hoffe, es reicht bis zum Mittag.“
„Bestimmt!“ Carlotta lacht. Sie zögert kurz, bevor sie weiterspricht. „Sag mal, du warst doch neulich bei Dr. Brönne. Hat er dir echt einen Verweis gegeben?“
„Nö“, brummt Manu. „Verwarnt hat er mich, weil ich frech zu der dussligen Dorsch war. Und dann hat er gemeint, ich würde meine Anpassungsschwierigkeiten sicher bald überwinden. Bei manchen Schülern würde es eben länger dauern, bis sie sich eingewöhnt hätten.“ Sie gibt dem Tischbein einen Tritt und schnaubt verächtlich. „Der hat sie doch nicht mehr alle! Ich und Anpassungsschwierigkeiten – dass ich nicht lache!“
Auf ihrem Weg durchs Schloss treffen sie Brendan, Felix und Hannes aus ihrer Klasse.
„Hi, Carlotta“, sagt Brendan. „Wir treffen uns nachher zum Joggen. Hast du nicht Lust, mitzumachen?“
„Wer ist wir?“, fragt Carlotta zurück.
„Ach, nur wir drei und noch ein paar Leutchen aus der Ruder-AG“, meint Brendan.
„Mal sehen“, erwidert Carlotta ausweichend.
„Wenn du willst, komm doch auch“, wendet sich Brendan an Manu. „Der Lauftreff ist nicht nur für Ruderer, da kann jeder mitmachen.“
Manu lässt einen Zeigefinger in Schläfenhöhe rotieren und schüttelt den Kopf. „Ich soll freiwillig durch die Gegend hecheln? Nee, danke. Ich
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