Internat auf Probe
dass sie eine ganze Runde geschwänzt hat.
Gleich neben der Gärtnerei entdeckt sie einen rostigen Wasserhahn. Sie dreht ihn auf, formt mit den Händen eine Schale und trinkt daraus. Dann schlüpft sie aus den Schuhen und Socken und hält ihre brennenden Füße unter den eiskalten Strahl.
Es ist so ein schönes Gefühl, dass sie am liebsten laut gejuchzt hätte, aber sie unterdrückt den Impuls und trinkt stattdessen noch ein paar Handvoll. Als sie sich auf einen Stein setzt, um ihre Füße notdürftig mit den Socken abzutrocknen, sieht sie plötzlich eine Gestalt über den schmalen Weg zwischen den Glashäusern huschen.
Carlottas Sitzplatz liegt im Schatten des Hauptgebäudes; sie ist vom Weg aus nicht zu sehen. Trotzdem zieht sie sich ein bisschen tiefer in den Schatten zurück und starrt der Gestalt hinterher.
„Das gibt’s doch gar nicht“, murmelt sie und kneift die Augen zusammen. Es ist eindeutig Manu, die wie ein Einbrecher zwischen den Gewächshäusern herumschleicht und dabei etwas an sich presst.
Es sieht aus wie ein Kleiderbündel, denkt Carlotta zuerst, aber dann sieht sie, was es wirklich ist: das Lunchpaket vom Frühstück!
Carlotta zieht die Stirn kraus. Will Manu hier etwa picknicken? Aber warum schleicht sie dann so? Heute ist Sonntag, da wird in der Gärtnerei nicht gearbeitet. Trotzdem benimmt sie sich sehr merkwürdig.
„Um nicht zu sagen, verdächtig“, murmelt Carlotta. Vorsichtig steht sie auf und lugt um die Ecke. Im selben Moment verschwindet Manu in einem der hinteren Gewächshäuser. Die Scheiben des Hauses sind mit Moos bewachsen und fast blind. Es ist unmöglich, einen Blick hineinzuwerfen.
Zu gern würde Carlotta hinterhergehen, die Tür aufreißen und die Mitschülerin überraschen. Aber dann überlegt sie es sich anders. Vielleicht hat Manu ein romantisches Rendezvous mit einem Unbekannten?
Nee, Quatsch! Carlotta schüttelt den Kopf. Sie kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass die schlecht gelaunte Kratzbürste einen Verehrer hat. Und wenn, ist es ihre Sache.
„Geht mich gar nichts an“, sagt Carlotta zu ihren Laufschuhen und schlüpft hinein.
Auf Zehenspitzen und ebenso geduckt wie vorher Manu schleicht sie den Weg zum Laufpfad zurück, um die anderen abzupassen und sich möglichst unauffällig anzuhängen.
Sie richtet sich auf und streift eine stachlige Brombeerranke von ihrem Arm, als plötzlich Bremsen quietschen und Reifen über den Weg schliddern.
„Ey, Mann!“, ruft jemand. „Pass doch auf!“
Carlotta hat das Gefühl, als würde ihr Herz mindestens drei Schläge in Folge aussetzen, so sehr hat sie sich erschreckt. „Manno!“, faucht sie. „Hast du keine Klingel?“
„Doch, klar.“ Jonas grinst von einem Ohr zum anderen. „Hab ich dich etwa erschreckt?“, fragt er mit Unschuldsmiene.
„Ja“, zischt Carlotta ihn an.
„Sorry, das wollte ich nicht.“ Jonas stützt sich auf den Lenker eines robusten Mountainbikes, das schon bessere Zeiten gesehen hat. Der schwarze Lack ist zerkratzt und an manchen Stellen abgeblättert. Die Reifen sind abgefahren und haben kaum noch Profil. „Aber kann ich ahnen, dass mir hier plötzlich ein geistesgestörtes Waldgespenst über den Weg läuft?“
Geistesgestörtes Waldgespenst? Carlotta funkelt ihn an. Was soll das denn heißen?
„Ich warte auf meine Laufgruppe“, erwidert sie spitz.
„Ach was“, grinst Jonas. „Und ich warte auf den Weihnachtsmann.“
Wider Willen muss Carlotta lachen. „Eins zu null“, sagt sie. „Aber ich warte wirklich auf meine Laufgruppe. Dahinten kommt sie.“
Jonas dreht sich um. Herr Dunker kommt in einiger Entfernung angejoggt, seine Schülerinnen und Schüler wie einen Rattenschwanz hinter sich herziehend.
„Hau ab!“, flüstert Carlotta Jonas hektisch zu und duckt sich hinter einen Busch. „Die dürfen mich nicht sehen! Ich erklär’s dir später, okay?“
„Schon klar.“ Jonas schwingt sich auf sein Mountainbike und fährt der Laufgruppe entgegen. Carlotta kann hören, dass er fröhlich klingelt und Herrn Dunker einen schönen Sonntag wünscht, da traben die Jogger schon an ihr vorbei. Sie wartet ein paar Sekunden und schließt sich hinten an. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht absolviert sie die letzte Runde und wundert sich darüber, wie interessant so ein sonntagnachmittäglicher Auslauf doch sein kann. Zuerst Manu, dann Jonas … Was der Tag wohl noch zu bieten hat?
In den nächsten Tagen hat Carlotta kaum Gelegenheit zum Nachdenken, weder
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