Internat auf Probe
die Zwillinge ins Gras und lassen sie krabbelnd die Gegend erkunden. Zwischen den Besuchern laufen Oberstufenschüler hin und her. Sie haben sich als Kellnerinnen und Kellner verkleidet und reichen den Eltern Sekt, Saft und Schnittchen. Alle horchen auf, als Dr. Brönne um Aufmerksamkeit bittet.
„Unsere Sextaner haben ihre ersten beiden Wochen auf Schloss Prinzensee verbracht“, beginnt der Internatsleiter seine Ansprache. „Es waren aufregende, spannende Wochen, und nach einigen Anlaufschwierigkeiten haben sich alle Fünftklässler gut in das Internatsleben eingefügt und ohne Ausnahme ihren Platz bei uns gefunden. Ich freue mich, Ihnen und euch mitteilen zu dürfen, dass ihr alle die Probezeit bestanden habt. Unser fünfter Jahrgang darf sich ab sofort offiziell Prinzenseer nennen!“
Während Eltern und Schüler begeistert Beifall klatschen, runzelt Carlotta die Stirn. Hat Dr. Brönne denn nicht mit Manu gesprochen? Die legt mit Sicherheit keinen gesteigerten Wert darauf, sich Prinzenseerin zu nennen. Überhaupt: Wo steckt Manu eigentlich?
Carlotta stellt sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Von Manu ist weit und breit nichts zu sehen. Auch Sofie glänzt durch Abwesenheit. Ob ihre Eltern überhaupt kommen konnten? Immerhin ist Belgien ziemlich weit weg.
Nach einem kurzen Freiluftkonzert des Schulorchesters zeigt Carlotta ihrer Familie das Bootshaus und den Bootsanleger am See. Das Nilpferd hat die Zwillinge in den Buggy gesetzt und schiebt sie den Weg durch den Park bis ans Ufer.
„Wie schön es hier ist“, seufzt Mama und setzt sich auf eine Bank. „Dein Vater hat ja immer von seinem alten Internat geschwärmt, aber ich konnte es mir nie richtig vorstellen, bis ich es zum ersten Mal gesehen habe.“
Carlotta setzt sich neben sie und blinzelt in die Sonne. Mama hat Recht: So richtig vorstellen kann man sich Prinzensee erst, wenn man es mit eigenen Augen gesehen hat.
Mama senkt die Stimme. „Geht es dir auch wirklich gut, Mäuschen?“, fragt sie und nimmt Carlottas Hand. „Hast du denn gar kein Heimweh?“
Carlotta denkt kurz nach, dann schüttelt sie den Kopf. „Ein bisschen schon“, gibt sie zu. „Nach Katie und Papa, und nach euch natürlich auch. Aber mir gefällt’s hier ganz gut. Ich glaub, für ein Jahr halt ich’s aus.“
„Dann ist ja gut“, seufzt Mama. „Und falls du es dir doch noch anders überlegst, kannst du es jederzeit sagen. Wir haben immer einen Platz für dich.“
Carlotta kuschelt sich in Mamas Arm und legt den Kopf an ihre Schulter.
„Ich weiß“, sagt sie leise. „Aber ich glaub, ich bleib hier.“ Außerdem ist die Probezeit längst abgelaufen, fällt ihr ein. Sie hat überhaupt nicht mehr daran gedacht. Das ist doch bestimmt ein gutes Zeichen, oder?
Als sie einen Schatten hinter dem Gebüsch am Uferweg verschwinden sieht, hebt sie den Kopf. War das nicht gerade Manu? Was hat die denn hier zu suchen? Dahinten sind doch nur die Schuppen und Gewächshäuser der Gärtnerei. Merkwürdig, denkt Carlotta und legt den Kopf zurück. Bestimmt hab ich mich geirrt.
Am späten Nachmittag geht der Besuchstag zu Ende. Lennart und Lorenz sind in ihren Autositzen angegurtet und haben Mühe, ihre Augen aufzuhalten.
„Macht’s gut, ihr zwei“, raunt Carlotta ihnen zu und gibt ihnen jeweils ein Küsschen auf die Stirn. „Seid schön artig und ärgert keine Omas, falls ihr welche seht.“
Steffen nimmt sie zum Abschied in den Arm, aber es ist Carlotta unangenehm und sie macht sich schnell von ihm los. Schließlich ist er nicht mein Vater, denkt sie und wendet sich an Mama. Die hat ihr Taschentuch gezückt und schnieft geräuschvoll hinein.
„Ach, Carlotta-Mäuschen …“, seufzt sie.
Carlotta gibt ihr einen Kuss und lächelt. „Bald ist Heimfahrtwochenende. Da komm ich euch besuchen.“
„Wir holen dich ab“, sagt Mama. „Sag nur rechtzeitig Bescheid, ja? Schade, dass ihr nur alle vier Wochen nach Hause dürft. Aber wir schreiben und telefonieren.“
„Klar, Mama, machen wir.“ Mit sanftem Druck schiebt Carlotta ihre Mutter auf den Beifahrersitz. Steffen sitzt schon am Steuer.
Carlotta schlägt die Autotür zu und winkt.
„Gute Fahrt!“, ruft sie. „Und bis bald!“
Erst beim Abendessen sieht sie Manu und Sofie wieder. Nach dem schönen Tag hat Carlotta so gute Laune, dass sie glatt vergisst, dass sie zu Manu nicht mehr nett sein wollte.
„Hattet ihr auch Besuch?“, erkundigt sie sich, als sie sich mit ihrem Tablett auf den freien
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