Internet – Segen oder Fluch
selbstverständlich halten, erst mühsam erfunden werden mussten. Daraus lässt sich schließen, dass auch wir voraussichtlich demnächst solche Verfahren entwickeln werden und dann der Schmerz nachlässt. Vorübergehend.
Eine Gruppe, die früh mit dem Problem der Informationsflut zu tun bekam, waren die Botaniker. Bis ins 16 . Jahrhundert lebten sie in dem Glauben, es gebe ein paar hundert verschiedene Pflanzen, die alle bereits von den Autoren der Antike beschrieben worden seien. Aber die Zahl der Botaniker nahm zu, und damit auch die Zahl der Pflanzen, die überall in Europa gefunden und in Büchern festgehalten wurden. Die neuen Pflanzen brauchten Namen. Unterschiedliche Autoren entschieden sich für unterschiedliche Bezeichnungen, schon bald war jede Pflanze unter mehreren Bezeichnungen bekannt. Die Lage wurde unübersichtlich, Anfänger und Fachleute kämpften mit dem Chaos.
Ab der Mitte des 16 . Jahrhunderts entstanden botanische Enzyklopädien, die neue Entdeckungen zusammenfassten. Man einigte sich auf standardisierte Begriffe und Beschreibungsformen. Stichwortverzeichnisse und Nachschlagewerke der konkurrierenden Pflanzennamen erleichterten die Orientierung. Die Autoren der neuen Übersichts- und Nachschlagewerke begannen die Quellen einzelner Informationen zu benennen. Neben den Büchern, die sich um Vollständigkeit bemühten, entstanden solche, die nur die Flora einer kleinen, übersichtlichen Region beschrieben. Ähnliche Pflanzen wurden in Gruppen zusammengefasst, die teilweise schon den modernen Arten entsprachen, teilweise aber auch eher an Jorge Luis Borges’ erfundene chinesische Enzyklopädie erinnerten: etwa «Pflanzen mit schönen Blüten». Der Bedarf an einer eindeutigen und logischen Taxonomie, die noch um 1500 niemand vermisst hatte, war unübersehbar geworden. Es dauerte dann nur noch weitere zweihundert Jahre, bis Carl von Linné diese Taxonomie entwickelte.
Auch in den anderen Wissenschaften wurden die Hilfsmittel und Systeme zum Auffinden und Ordnen der neuen Informationsfülle immer weiter ausgebaut: Stichwortverzeichnisse, Merkmallisten, Bibliographien. Der bereits erwähnte Conrad Gesner unternahm 1545 den Versuch, alle gedruckten Bücher aufzulisten, seine
Bibliotheca universalis
enthält rund 10 000 Titel. Gegen Ende des 17 . Jahrhunderts begann die große Zeit der Enzyklopädien. Als der Brite Ephraim Chambers 1728 seine zweibändige
Cyclopaedia
veröffentlichte, begründete er die Notwendigkeit wieder einmal mit «der lange beklagten Vielzahl der Bücher: es sind ihrer zu viele geworden, zu viele nicht nur, um sie zu erwerben und zu lesen, sondern auch um sie zu betrachten, ihre Namen zu kennen oder auch nur ihre Zahl». Die
Cyclopaedia
enthielt als erstes Nachschlagewerk Querverweise zwischen den Einträgen. Verzeichnisse von Verzeichnissen entstanden. Diese Lösungen brachten neue Sorgen mit sich. Forscher beklagten einen Niedergang der Gelehrsamkeit, der um 1600 eingesetzt habe, seit der wissenschaftliche Nachwuchs sich so vieler Arbeitserleichterungen und Nachschlagewerke bediene, anstatt ordentlich die Originalquellen zu studieren.
Auch die persönlichen Lesestrategien passten sich an. In frühmittelalterlichen Darstellungen sieht man Gelehrte einen einzigen Text lesen. Etwa ab dem Jahr 1400 werden Bilder üblich, auf denen die Lesenden mehrere Schriften gleichzeitig studieren. Kurze Zeit später umgibt ein Chaos aus aufgeschlagenen Büchern und Manuskripten die dargestellten Forscher. Im 16 . Jahrhundert tauchen vereinzelt «Bücherräder» auf, rotierende Lesepulte, mit deren Hilfe man abwechselnd in bis zu zwölf Büchern lesen konnte. Die Literatur selbst ist voller Ermahnungen, dem erhöhten Pensum mit mehr harter Arbeit und Selbstdisziplin zu begegnen, aber guter Wille war nicht genug. Techniken des flüchtigen Lesens breiteten sich aus: Der britische Philosoph Francis Bacon erklärte 1612 , manche Bücher seien nur zu verkosten, andere hinunterzuschlingen, einige wenige zu kauen und zu verdauen. Forscher beschrieben ihre privaten Techniken im Umgang mit den großen Informationsmengen: Kürzel und Anmerkungen in farbiger Tinte an den Texträndern, die von Isaac Newton bevorzugten Eselsohren, das Markieren mit dem Fingernagel, das Ausschneiden und Zusammenkleben handschriftlicher und gedruckter Texte. Speziell die deutschen Gelehrten des 17 . Jahrhunderts schätzten offenbar komplizierte, mehrstufige Systeme zur Verwaltung ihrer Notizen. Der Hamburger
Weitere Kostenlose Bücher