Internet – Segen oder Fluch
Professor Vincent Placcius beschrieb 1689 ein nach seinen Vorgaben angefertigtes Schränkchen, in dem er Notizzettel an Haken mit bestimmten Überschriften aufbewahrte. Leibniz ließ sich angeblich ein solches
scrinium literatum
nach Placcius’ Vorgaben anfertigen. Es war nicht unüblich, Handlanger mit dem Lesen und Exzerpieren zu beschäftigen.
Alle Hilfsmittel werden früher oder später von der immer weiter wachsenden Informationsmenge eingeholt, und eine bloße Vergrößerung des Hakenschränkchens, des Bücherrades oder der Enzyklopädie bringt dann keine weitere Linderung. Immer wieder werden neue, ganz anders geartete Techniken nötig. Ein Beispiel aus der Wissenschaft des 20 . Jahrhunderts ist der
impact factor
( IF ). Er geht auf den amerikanischen Wissenschaftler Eugene Garfield zurück, der 1955 das
Institute for Scientific Information
sowie die Forschungsrichtungen «Bibliometrie» und «Szientometrie» mitbegründete. Auch Bibliometrie und Szientometrie sind Antworten auf die Frage, wie man sinnvoll mit einer viel zu großen Informationsmenge zurechtkommt.
Weil es viel zu viele wissenschaftliche Zeitschriften gibt, als dass Forscher sich auch nur innerhalb des eigenen Fachgebiets einen vollständigen Überblick verschaffen könnten, brauchen sie irgendeine Entscheidungsbasis, was sie in ihrer begrenzten Arbeitszeit lesen sollen und was nicht. Eine Möglichkeit ist, nur die relevantesten Zeitschriften zu lesen, und bei der Identifikation dieser Zeitschriften hilft der besagte
impact factor
. Er misst, wie oft andere Wissenschaftler Beiträge zitieren [8] , die in einer bestimmten Zeitschrift erschienen sind: 2011 zählt man nach, wie oft die 2009 und 2010 in «Mitteilungen zur Angewandten Hypnohydraulik» erschienenen Beiträge in anderen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zitiert wurden. Wenn jeder Beitrag im Schnitt dreimal von anderen Forschern als Quelle erwähnt wurde, hatte die Zeitschrift im Jahr 2011 einen IF von 3 . Wer sich hier an Googles PageRank-Algorithmus erinnert fühlt, täuscht sich nicht, es handelt sich beim IF tatsächlich um einen frühen Vorläufer. Wenn man jetzt noch Zitate in Zeitschriften mit höherem Impact stärker gewichten würde als Zitate aus weniger wichtigen Zeitschriften, dann hätte man das Google-System [38] . Der IF war zu seiner Zeit ein Fortschritt, inzwischen sind aber auch viele Schwächen der Methode an den Tag getreten. Von diesen Problemen und den aktuellen Bewältigungsansätzen wird im nächsten Kapitel die Rede sein.
Die «Informationsüberflutung» ist nur die andere Seite des alten Menschheitstraums vom schnellen, ungehinderten Zugang zu möglichst allen Informationen, die andere bereits zusammengetragen haben. Es ist viel einfacher geworden, Informationen zu suchen, zu sammeln und bei Bedarf zur Hand zu haben. Noch nie gab es so umfangreiche, auch außerhalb der Universitäten verfügbare Möglichkeiten, sein Wissen in einem beliebigen Fachgebiet zu vertiefen. Wie unsere Vorfahren schwanken wir angesichts der neuen Möglichkeiten zwischen Sehnsucht und Überforderung. Einerseits wollen wir alles, und zwar sofort und ohne Schlangestehen in der Bibliothek, andererseits aber dann doch lieber nicht
alles
, sondern nur das, was wir gerade suchen. Im günstigen Fall herrscht ein fragiles Gleichgewicht zwischen Findeglück und Überforderung, ein Gleichgewicht, das durch jede Veränderung aufs Neue bedroht wird.
In manchen Wissensbereichen befinden wir uns heute in derselben Situation wie die Botaniker des 16 . Jahrhunderts: Viel zu viele Daten aus allen möglichen Bereichen strömen auf uns ein, ohne dass wir über ein Modell verfügten, in das wir sie einbauen könnten. Das stiftet Unruhe und Verwirrung, die Linderungstechniken hinken den Problemen hinterher, und bis ein Gebiet durch das Äquivalent einer Linné’schen Taxonomie grundlegend neu geordnet wird, kann es lange dauern.
Ein angenehmer Aspekt der Informationsüberflutung ist, dass sie – anders als andere Themen dieses Buchs – wenig Zwietracht verursacht. Die Beschleunigung, um die es im vorigen Kapitel ging, ist in den Städten spürbarer als auf dem Land, bietet also beispielsweise die attraktive Möglichkeit, Zivilisation, Industrialisierung und die zweifelhaften Interessen der Städter zu beschuldigen. Aber die Informationsüberflutung ist allgegenwärtig, sie betrifft uns alle, und wir alle tragen dazu bei, aber niemand kann so richtig etwas dafür. Daher wird ausnahmsweise
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