Internet – Segen oder Fluch
die Warnungen vor der Informationsflut des Internet.
@formschub, Twitter, 30 . Januar 2012
Die Informationsmenge im Netz verdoppelt sich – je nachdem, was man zählt und wem man glaubt – alle anderthalb bis fünf Jahre. Anfang 2012 kamen in jeder Minute 1800 Terabyte neue Daten hinzu [35] . Der ehemalige Google- CEO Eric Schmidt schätzte 2010 , dass alle zwei Tage so viel Information produziert würde wie von Anbeginn der Menschheit bis einschließlich 2003 . Wie sich in anschließenden Diskussionen herausstellte [36] , hatte er damit vermutlich nicht recht. In Wirklichkeit weiß niemand so genau, wie viel Information von Anbeginn der Menschheit bis 2003 produziert wurde oder was «Information» in diesem Zusammenhang eigentlich heißt. Einigkeit herrscht aber darüber, dass das Netz sehr viel von diesem informationsartigen Zeug enthält und dass es täglich mehr wird.
Dabei war die Lage schon vor der Erfindung des Internets nicht gerade übersichtlich: 1990 beschrieb der
Spiegel
unter dem Titel «Der Mensch wird immer dümmer» das «Informations-Bombardement» durch das immer größere Angebot in Bahnhofsbuchhandlungen, die «Anzeigenblätter in einer Millionenauflage», die «blinkenden Nachrichten auf Leuchtschrifttafeln», die raschen Bildwechsel bei MTV und das «Abgrasen (Fachjargon: ‹Zapping›) der TV -Kanäle». Der amerikanische Autor Warren Bennis wird in diesem Beitrag als «eingefleischter Informations-Junkie» und «Opfer der Informationsflut» vorgestellt, weil er 225 Magazine abonniert hat. «Bennis stapelt die Druckwerke nach ihrer ‹Wichtigkeit›. Das hat auf seine Lesetätigkeit allerdings keinen Einfluss, da er einen Großteil seiner Zeit damit verbringt, ‹sich schuldig zu fühlen, weniger als ein Prozent des Stapels
Absolut wichtig
zu lesen›.»
Auch vor der Erfindung von Fernsehen und Bahnhofsbuchhandel hatten es die Menschen nicht leicht. Der französische Enzyklopädist Denis Diderot kam 1755 zu dem Schluss, weil die Anzahl der Bücher immer weiter wachse, könne man «eine Zeit vorhersagen, in der es fast so schwierig sein wird, aus Büchern zu lernen wie aus der direkten Betrachtung des ganzen Universums». 1685 befürchtete der französische Forscher Adrien Baillet, die von Tag zu Tag zunehmende Vielzahl der Bücher werde die kommenden Jahrhunderte in einen Zustand der Barbarei zurückfallen lassen. 1680 beklagte Leibniz die «schreckenerregende und immer weiter anwachsende Menge der Bücher», die schließlich in ein «fast unüberwindliches Chaos» [37] führen werde. Der Schweizer Naturforscher Conrad Gesner schrieb schon 1545 von einem «verwirrenden und schädlichen Überfluss an Büchern». Natürlich stehen alle diese Klagen ihrerseits in Büchern und vermehren so das Problem.
Wenn man noch weiter zurückgeht, kommt man aber nicht etwa bei Menschen an, die finden, es müsse jetzt aber mal Schluss mit den vielen Höhlenmalereien sein. In der Zeit vor dem Buchdruck bestand das Hauptproblem im Umgang mit Informationen im Gegenteil darin, dass sie rar, kostbar und vom Verschwinden bedroht waren. Handschriften etwa gingen gar nicht so selten unwiederbringlich verloren, zum Beispiel durch Bibliotheksbrände. Der Buchdruck löste dieses Problem um den Preis eines neuen.
Die Zeiten, in denen es für den einzelnen Leser möglich war, die gesamte existierende Literatur selbst zu sichten, waren schon in der Antike Vergangenheit, auch die Bibliothek von Alexandria überstieg das Lesevermögen jedes Menschen. Danach blieb es noch einige Jahrhunderte lang möglich, ein bestimmtes Fachgebiet zu überblicken. Heute ist das Gebiet, in dem Experten die Literatur einigermaßen erfassen können, auf ein winziges Eckchen der jeweiligen Wissenschaft zusammengeschnurrt. Zuweilen gelingt es ein paar Jahrzehnte lang etwas besser, zu verdrängen, wie groß das Missverhältnis zwischen Informationsmenge und menschlicher Lebenszeit ist. Aber mit der Digitalisierung ist die gewaltige Menge des Geschriebenen wieder einmal deutlich ins allgemeine Bewusstsein gerückt.
Dass das Problem bereits älter ist, hat den Vorteil, dass andere Menschen schon Techniken und Praktiken zu seiner Linderung gefunden haben. Beim Umgang mit der aktuellen Version der Informationsüberflutung sind diese Bewältigungsstrategien von früher zwar keine Hilfe, es lohnt sich aber trotzdem, einen Blick darauf zu werfen. Man kann an ihnen ablesen, dass viele Techniken der Informationshandhabung, die wir heute für
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