Internet – Segen oder Fluch
Akustik könnte als Modell für die Empfindung der Beschleunigung taugen, die Shepard-Skala. Der Psychologe Roger Shepard entdeckte 1964 spezielle Tonfolgen, die bei Zuhörern einen merkwürdigen Effekt erzielen. Es scheint, als steige eine Tonleiter beständig an, über Minuten, Stunden, Tage, solange man zuhört. Doch erreichen die Klänge nie das physisch nicht mehr wahrnehmbare Spektrum. Dieser Effekt kommt, grob gesagt, dadurch zustande, dass mehrere ansteigende Tonfolgen ständig ineinandergreifen. Sie bilden eine Art akustische Spirale, die sich dreht und dreht, in die der Betrachter immer tiefer hineingezogen zu werden scheint. Mit der Wahrnehmung der Beschleunigung in der Gesellschaft könnte es sich ähnlich verhalten: einzelne Prozesse werden messbar schneller, andere aber bremsen sich ab oder verschwinden.
Das Leben besteht schließlich, wie bei der Shepard-Skala, aus vielen ineinandergreifenden Prozessen, es ist kein gleichförmiges Geschehen. Vorgänge, die sich gerade nicht beschleunigen, stehen allerdings viel seltener im Fokus, weil zunehmende Geschwindigkeit die Aufmerksamkeit auf sich zieht, abnehmende aber nicht. Ungefähr so, wie bei der Fernsehübertragung eines Radrennens die Kamera in der Regel auf die schnelle Spitzengruppe gerichtet ist und selten auf die zurückfallenden Fahrer weiter hinten. Die Beschleunigung hat im Kampf um die Aufmerksamkeit einen, haha, Geschwindigkeitsvorteil gegenüber der Verlangsamung.
Die Beschleunigung scheint sich vor allem auf zwei verschiedene Arten zu reduzieren. Die erste ist naheliegend: Manche schnellen, stresserzeugenden Tätigkeiten verschwinden einfach. Eine Telefonistin im späten 19 . Jahrhundert beschrieb ihren Arbeitsplatz: «Sitzen Sie einmal, die siebente oder achte Stunde am Tag, das Mikrophon am Ohr, ein paar Dutzend Schnüre und Lampen und zehntausend Klinken vor sich, und alles durcheinander: Rufzeichen und Fragen, Verbindungen, Mithören, wieder Trennen und Zwischenfragen, Schlusszeichen und sieben Beschwerden; (…) ungeduldiges Lämpchenblinken und ‹nochmals rufen› und einmal ‹Feuerwehr› und dann die Aufsicht und dann das Fernamt und wieder trennen. Und finden sie einmal unter zehntausend Nummern die richtige in einer halben Sekunde und hauen Sie nicht daneben und behalten Sie im Kopf, dass der gelbe Stöpsel in dieser Klinke das, der grüne in jener dies, und der gekreuzte wieder etwas anderes bedeutet.» [33] Der damals höchst beschleunigte Beruf des «Fräulein vom Amt» existiert heute nur noch als großonkelhafte Redewendung.
Das zweite Verschwinden der Beschleunigung entspricht eher einem Verblassen. An manche der früher ungeheuer beschleunigungsintensiven Vorgänge gewöhnen wir uns einfach. Das Thema des hupenden, quiekenden Verkehrs ist heute weitgehend aus dem Beschwerdewesen verschwunden. Und das liegt nicht ausschließlich daran, dass sowieso alle im Stau stehen, einem Ort, an dem sich selbst erklärte Beschleunigungsfeinde nur selten zu Klagen über die rasende Welt hinreißen lassen.
Aus ehemaligen Schrecknissen der Beschleunigung können sogar entspannende Tätigkeiten werden. Das geschieht nicht nur, weil inzwischen alle anderen Lebensbereiche noch stärker beschleunigt worden wären, so wie die Mieten in einem einstmals teuren Wohnviertel nicht etwa sinken, sondern nur durch die noch stärker steigenden Mieten der anderen Viertel irgendwann wieder relativ bezahlbar erscheinen. Auf vielen Gebieten kommt es zu einer sozialen Umdeutung der ehemals stressigen Tätigkeit. Aus der nervenzerfetzenden Allgegenwart aktueller Nachrichten, die im 19 . Jahrhundert beklagt wurde, ist das beschauliche morgendliche Zeitunglesen geworden, ein Gegenentwurf zur nervenzerfetzenden Allgegenwart aktueller Nachrichten im Internet. Der Blick aus dem Zugfenster auf die vorbeiziehende Landschaft – frühe Reisende empfanden ihn als höchst beunruhigend, Mediziner warnten vor Schädigungen von Auge und Gehirn – dient heute der Entspannung. Zug- und Schiffsreisen sind etwas für Leute mit sehr viel Zeit, und das Motorradfahren existiert in Parallelversionen sowohl als Hobby für Hochgeschwindigkeitsfans wie als zeitvergessenes Dahintuckern auf der Harley, das ein Zeichen gegen die Hast der übrigen Gesellschaft setzt.
Der Dokumentarfilm «Koyaanisqatsi», der einer indianischen Prophezeiung folgend vor der ständigen Beschleunigung der Welt warnen sollte, rüttelte im Erscheinungsjahr 1982 die Kinozuschauer mit seinen
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