Internet – Segen oder Fluch
auch niemand beschimpft, nicht einmal Google, Apple oder Facebook. Uneinigkeit herrscht nur darüber, wie neu und wie fatal die Informationsflut wirklich ist.
Freizeitnutzer des Internets können zwar Hilfsmittel einsetzen, die andere schon für sie erfunden haben und an leicht auffindbaren Orten zur Verfügung stellen, zum Beispiel die Vorsortierung der Welt durch Google. Viele andere Techniken aber bleiben ihnen verschlossen, weil man dafür weniger naheliegende Anlaufstellen im Netz aufsuchen oder Software einsetzen müsste. Und diejenigen Strategien, die man sich erst einmal aneignen müsste, fehlen ihnen ganz. Gerade die Wenignutzer des Netzes spüren die Überfülle daher am schmerzhaftesten. Aber es ist nicht so, dass das Problem nach einer kurzen Zeit der individuellen Eingewöhnung einfach verschwindet. Den Umgang mit der Informationsflut lernt man nicht wie Fahrradfahren einmal und für alle Zeiten. In den letzten zwanzig Jahren haben viele erfahrene Internetnutzer öffentlich erklärt, bisher sei ja alles gut und schön gewesen, aber seit – hier eine beliebige aktuelle Entwicklung einsetzen – sei die Überfülle endgültig von niemandem mehr zu bewältigen.
Das ganze Problem existiert nicht nur im Kopf seltsamer Gestalten, die von allen Medien außer dem Vier-Seiten-Bilderbuch aus kaufreundlichem Plastik überfordert wären. Es betrifft uns alle, und es ist unbestreitbar lästig. Aber unsere Vorfahren haben für ähnliche Probleme Hilfsmittel gefunden, die uns heute so selbstverständlich und natürlich erscheinen wie das Eselsohr. Und wir werden auch diesmal wieder Bewältigungstechniken finden.
Der erste Schritt ist die Gewöhnung. Das Ignorieren von Informationen ist eine der wichtigsten Fähigkeiten, über die der Mensch verfügt. Abermillionen Sinnesreize prasseln jeden Tag auf die Neuronen ein, viel mehr, als sich sinnvoll verarbeiten ließen. Zur Grundausstattung des Menschen gehört daher ein intelligentes Filtersystem, das nur ausgewählte Informationen überhaupt im Gehirn verarbeitet und noch weniger, noch sorgsamer ausgewählte Informationen durch das Filtersekretariat zum Bewusstsein vorlässt. Zweifellos war es ein Evolutionsvorteil, angesichts eines hungrigen Löwen nicht noch aufwendige Nachdenkenergie und Zeit bei der Analyse der Flugbahn eines zufällig vorbeiflatternden Vogels zu vergeuden.
Mit jedem Zuwachs an verwirrenden Informationen schuf sich die Gesellschaft neue Filter, die wiederum durch persönliche Wahrnehmungsfilter ergänzt werden. Ohne Panik am Straßenverkehr einer Großstadt teilzunehmen, im Fernsehen nicht alle Kanäle ansehen zu müssen, vor dem Kiosk nicht den Lesedruck der hunderttausend bedruckten Seiten zu spüren – das ist gelerntes Filterverhalten. In den digital vernetzten Medien funktioniert so ein für andere Bereiche erlerntes Filterverhalten leider nicht auf Anhieb. Der Autor und Internetintellektuelle Clay Shirky sieht die Problematik der Informationsflut ausschließlich in diesem Mangel begründet: «Es gibt keinen Informations-Overload. Es gibt nur Filterversagen.»
Damit verschiebt man die Frage nach einer Lösung allerdings nur, denn auch Filterversagen ist ein ernstzunehmendes Problem. «Bei Twitter folgen einem ja so viele, man kann und will das gar nicht mehr alles lesen», sagte die Grünen-Politikerin Tabea Rößner Anfang 2012 bei einer Podiumsdiskussion der Böll-Akademie. Man
kann und will
nicht – man muss aber auch gar nicht. Niemand ist verpflichtet, seinen Twitter-Followern zurückzufolgen, und wenn er es doch tut, braucht er nicht alles zu lesen, was sie schreiben. Man kann ja auch nicht alle Gespräche in der U-Bahn zugleich mithören. Gleichzeitig müssen die Mitmenschen auch signalisieren, dass sie keineswegs in jedem Feld das gründliche Durchlesen alles theoretisch Durchlesbaren erwarten, dass man also mit Fachliteratur und Facebook-Updates so selektiv umgehen darf wie Francis Bacon mit den Büchern.
Ein weiterer Teil der Bewältigungsstrategien sind technische Hilfsmittel. In den letzten Jahren sind viele von ihnen entstanden. Zum Teil sind sie schon wieder überholt oder wirken so selbstverständlich, dass wir sie kaum mehr wahrnehmen. Ein früher Versuch, die Informationsflut im Netz zu bewältigen, waren in den neunziger und frühen nuller Jahren von Redakteuren erstellte «Internetverzeichnisse». Dazu gehörten web.de , yahoo.com und das von Freiwilligen aktualisierte «Open Directory Project». Sie stießen
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